Lunch mit Komponist Christopher von Deylen

Bei Spicy Tatar und Surf & Turf Rolls sprechen wir mit dem Komponisten Christopher von Deylen alias Schiller über Musik als Agitprop, das Recht auf Spaß und eine Prise Trotz.
Sehr hanseatisch sieht er aus, als mich Christopher von Deylen alias Schiller im sonnigen Innenhof des Hamburger Hotels „Tortue“ begrüßt: dunkelblauer Anzug, dunkelblaues Shirt, dunkle Hornbrille und Sneakers, am rechten Handgelenk geflochtene Lederarmbänder. Er be-grüßt mich stehend und lächelt, als ich ihm ein Kompliment mache: „Der Anzug ist der einzige dunkelblaue, den ich im Schrank habe, also eigentlich untypisch für mich.“ Vor etwa 25 Jahren habe ich den Komponisten und Musikproduzenten das letzte Mal live gesehen. Wir lebten zur gleichen Zeit in der Hansestadt und gehörten einem ähnlichen Freundeskreis an. Heute ist er mit der Bahn aus Visselhövede im südlichen Niedersachsen angereist. Von daher stammt er und ist nach vielen Stationen im In- und Ausland dorthin zurückgekehrt – ein neues altes Zuhause „mitsamt Katze und Garten“.
Wir setzen uns und plaudern erst einmal über vergangene Zeiten. Das zum Hotel gehörende asiatische Fusion-Restaurant „Jin Gui“ habe er ausgesucht, weil er hier vor einer Weile mit seiner just angetrauten Frau einen wirklich schönen Abend verbracht habe. „Ich fand es erfrischend, weil es so gar nicht hamburgisch ist. Viel lässiger und herzlicher, als man es hier sonst gewohnt ist.“ Christopher von Deylen lässt seine Worte nicht fließen, er setzt sie punktgenau. Man sieht ihm beim Denken zu und hört dann druckreife Formulierungen.
Vom Kabelsortierer zum Chartstürmer – und darüber hinaus
Schon als Student der angewandten Kulturwissenschaften in Lüneburg beschäftigte er sich mit elektronischer Musik und jobbte als „Mädchen für alles“ in einem Tonstudio: Kaffee kochen, Kabel sortieren. „Als Belohnung durfte ich dann nachts ans Misch- pult. Learning by doing, Youtube-Tutorials gab es ja noch nicht.“ Seine erste Single brachte er vor exakt 30 Jahren heraus – ein Misserfolg, auf den drei Jahre später mit „Can U Feel the Bass“ ein Top-20-Hit folgte. „Der Flop war super, weil ich daraus sehr viel gelernt habe.“ Im Jahr darauf gründete er sein Musikprojekt Schiller. Als seinen Durchbruch kann man sicher das Stück „Glockenspiel“ bezeichnen. „Ich habe mir zum ersten Mal nichts abgerungen in stundenlanger Bastelei, es ist mir einfach passiert“, erzählt der 53-Jährige. „In einer Phase der lässigen Lustlosigkeit. Ich habe zunächst nicht ernst genommen, dass die Plattenfirma euphorisch reagierte.“ Den Namen Schiller wählte er aus einer Trotzhaltung. „Alle anderen wollten zu der Zeit englische Namen, flogen mit EasyJet und ihren Vinylalben nach England, um ihre Rezensionsplatten mit britischem Poststempel zu verschicken.“
Heute beschäftigt sich von Deylen mit den unterschiedlichsten Projekten gleichzeitig. Für die MS „Europa“ konzipierte er die Format-Reise „Voyage – Colors of the World“, ein immersives Musikerlebnis mit
eigenem Licht-Design und abgestimmten Speisen. Er
nennt es „experimentelle Elektronik-Folklore“ und
sagt, es sei immer gut, wenn man das Gegenteil von
dem mache, was andere oder man selbst von einem
erwarten. Eigentlich habe er in diesem Jahr eine Fortsetzung mit der persischen Sängerin Yalda Abassi und
ukrainischen Tänzern geplant. Die Reederei habe ihm
eine E-Mail geschickt und Bedenken geäußert, Künstler aus Krisen- und Kriegsgebieten auftreten zu lassen. „Ich bin Waage und komme oft nur unter enormen Verwindungen zu einer Entscheidung.
In diesem Fall habe ich keine Sekunde gebraucht, um meine Absage zu formulieren.“ Ein Projekt, das ihm gerade sehr viel
Spaß bereitet, sind Kompositionen für die
Ultra-Luxus-Champagner-Marke Krug.
„Ich konnte mir die Kellerei anschauen
und war fasziniert von deren handwerklichen Fähigkeiten. Krug betreibt im
besten Sinne modernes Mäzenatentum,
indem das Unternehmen Künstler unterschiedlicher Metiers fördert.“
Feiern ohne Filter – warum Musik nicht immer eine Message braucht
Neulich, erzählt er jetzt, nachdem wir bestellt haben, habe er ein Roland-Kaiser-Konzert besucht, wo ihm das Herz und etwas anderes aufgegangen sei. Natürlich kenne er die Vorbehalte der Kultur-Schickeria gegenüber Schlagersängern: „Einfach nur vorbehaltlos Spaß zu haben, wird von einer bestimmten Kaste ja mittlerweile als problematisch erachtet. Wenn man sich als kulturell interessierter Mensch wahrnimmt, verfolgt man das Leben und die Sekundärberichterstattung über selbiges sehr interessiert und könnte zu dem Schluss kommen, dass auch die Mehrheit keinen Spaß mehr haben möchte. Dabei sehe ich bei meinen Auftritten als DJ, egal ob in einem Techno-Club in Karlsruhe oder einem Open-Air-Festival in der Schweiz, lauter Menschen, die einfach nur freidrehen wollen. Ein urmenschliches Bedürfnis. Für mich ist es beruhigend zu sehen, dass es das noch gibt – und Künstler, die einen Abend 100 Prozent Message-frei bestreiten: kein Appell, kein Zeigefinger, keine Andacht.“ Und wer sind die anderen? „Die, die dem Bullshit-Bingo aus Purpose, Mindfulness und Achtsamkeit mitsamt der manischen Melange aus Diversity und Political Correctness frönen und permanent damit beschäftigt sind, nichts falsch zu machen. Es wird eine Haltung zu allem erwartet. Aber bitte nur die ,richtige‘. Wie langweilig.“ Er habe als Musiker nur eine Verantwortung, nämlich die, Musik zu machen, die Menschen berührt. „Alles andere ist Agitprop, getarnt als Musik.“
Unsere Speisen werden nun serviert und bedecken den kleinen Bistrotisch bis auf den letzten Zentimeter: Spicy Tatar Rolls mit Thunfisch und Avocado, Beef Tatar Truffle Rolls mit Rindertatar, Gurke und geflämmtem Rinderfilet sowie Garnelen-Tatar und zwei verschiedenen Sorten Edamame mit Chili und Trüffeln. Von Deylen trinkt dazu eine Coca-Cola („kein Alkohol vor Sonnenuntergang“), ich eine Himbeer-Zitronen-Limonade. Die Beef Tatar Rolls sind köstlich. Bis man sie zu Ende gekaut hat, vergehen allerdings ein paar Minuten. Und so wechseln wir uns mit dem Sprechen einfach ab. Der Musiker ist mit dem Thema „Gesinnungsaufladung“ noch nicht fertig. Selbst wenn man in den Supermarkt ins Waschmittelregal greife, entkomme man dem nicht. „Jedes Produkt ist recycelbar oder bereits recycelt, überall Pflänzchen drauf. Selbst hier wird man permanent mit Purpose drangsaliert.“ Kunst aber solle doch der Katalysator für den individuellen Eskapismus sein und nicht die Fortsetzung des gesellschaftlichen Diskurses. „Man möchte doch auch mal zwei Stunden den Alltag vergessen.“
Von Teheran bis L.A.: Wie Reisen den Blick auf die Welt verändert
Von Deylens Blick auf die Welt hat sich durch viele Auslandsaufenthalte geschärft. Im Iran, wo er zwischen 2017 und 2019 als erster westlicher Musiker
Konzerte geben durfte („Das lag wohl daran, dass es
in meinen Songs keine Texte gibt“), stellte er fest,
wie groß damals die Resilienz und auch Renitenz der
Menschen gegenüber den Obrigkeiten gewesen sei.
Tanzen in der Öffentlichkeit ist dort nicht erlaubt.
Seine Konzertbesucher habe das wenig interessiert:
„Sitzen sie jetzt noch oder tanzen sie schon, habe ich
mich oft gefragt. Die Ordner ermahnten zwar beharrlich, aber sobald sie sich umdrehten, ging es
munter weiter.“ Davor, 2014 und 2015, lebte er in
Amerika: New York, L. A., Palm Springs. „Ich wollte in einem anderen Land leben und die Welt und
meine Heimat von dort aus ansehen. Länger als nur
ein paar Wochen.“ Sein Learning: „Wenn man etwas
will, kann man es auch erreichen. Der Amerikaner
wirkt auf mich immer noch wie ein Cowboy, der auf
seinem Pferd vorwärtsreitet, stolpert, fällt und gleich wieder aufsteht. To fail forward,
heißt es auch. Ich denke, dass es
daran liegt, dass Amerika im Vergleich zu Europa immer noch
jung ist, immer noch übt, in der
geschichtlichen Pubertät ist. Der
Europäer dagegen hat, vereinfacht
gesagt, schon alles durchgemacht.
Wenn wir uns auf ein Pferd set-
zen, liegt unser Augenmerk da-
rauf, nicht herunterzufallen Hashtag #reichtdoch. Für uns ist
Scheitern das Ende, für Amerika-
ner ist es ein neuer Anfang. Wer
nicht scheitert, hat es nicht heftig
genug gewollt.“ Leider könne
man diesen Spirit nicht importieren, wie Sand aus Wangerooge in
eine Flasche abfüllen und ins Regal stellen. Weil man für so eine
attitude Mitspieler brauche. „Ich
bemühe mich dennoch, dies aus mir herauszukitzeln, jedes Mal,
wenn ich eingewoben werde von
Bedenken. Wie Houdini versuche
ich, mich daraus zu befreien. Das
kostet Kraft, lohnt sich aber.“
Auf dem Tisch steht noch jede Menge Sushi. Wir essen langsam, mit Genuss. Um uns herum haben sich fast alle Tische auf der Terrasse gefüllt. Das Wetter ist zu einladend, um drinnen in schummriger Gemütlichkeit zu sitzen. Von Deylen ist schon bei der dritten Coca-Cola. Achtung, Zuckerschock? „Nein, mehr Energie“, lacht er.
Kurz-Bio
Geboren am 15. Oktober 1970 in Visselhövede, Niedersachsen. Er studierte in Lüneburg und jobbte in einem Tonstudio in Hamburg, wo er erste Kompositionen elektronischer Musik ent- warf. Sein erster Hit: „Make Love (Make No War)“ 1995 für den damaligen Pornostar Dolly Buster. Im Sommer kann man ihn als Schiller auf verschiedenen Konzerten sehen: schillermusic.com