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"Für mich gab es keinen anderen Weg" - Jil Sander über Purismus & Poesie

Ein Interview von Mariam Schaghaghi
21 Jan. 2025

Mit Mut, subtilen Schnitten und allerfeinsten Materialien erlöste sie die Mode vom Weibchenschema und gab den Frauen neue Kraft. (Foto: 1983 in ihrem Studio. Atlantis Film)
Mit Mut, subtilen Schnitten und allerfeinsten Materialien erlöste sie die Mode vom Weibchenschema und gab den Frauen neue Kraft. (Foto: 1983 in ihrem Studio. Atlantis Film)

Sie ist die Einzige, deren Purismus und Poesie bis heute fortlebt. Eine Ikone. Zu Besuch bei Jil Sander

Ein sonniger Vormittag im Herbst, das Kopfsteinpflaster der schmalen Sträßchen im Hamburger Stadtteil Pöseldorf ist voller goldgelber Blätter, es herrscht heitere Ruhe wie an einem Feiertag.

Hinter gestutzten Bäumen und Hecken lugt eine weiße imposante klassizistische Villa hervor. Pöseldorf ist Jil Sanders Hood: An einer Ecke war ihre legendäre Boutique, einen Steinwurf weiter, in einem dreistöckigen Patrizierhaus, wohnte sie mal. Aufs Klingeln öffnet sich jetzt die mächtige Haustür aus Holz, und Jil Sanders Assistentin bittet mich in ein riesiges Foyer mit weißen Stuck-Kassettendecken, so prachtvoll, dass es außer einem mächtigen Metall-Tischobjekt kein Mobiliar benötigt, aber viel Luft zum Atmen bietet. Trotz der Größe wirkt die Villa nicht einschüchternd, nur weiß, rein, pur.

Rechts geht es eine breite Marmortreppe empor, im ersten Stock stehen zahlreiche Türen offen, als führten sie in Ateliers. Ganz hinten rechts biegen wir in einen kleineren quadratischen Raum ab, mit Terrasse und Blick ins Grün, dahinter die Alster. In der Mitte steht ein Tisch, darauf für jeden eine weiße Kaffeetasse, ein Wasserglas, ein Papierblock mit Logo. Gelebter Minimalismus. Hier liegt auch der Anlass dieser raren Einladung, das Buch „Jil Sander by Jil Sander“. Es ist eher ein Gesamtkunstwerk, das sich mit weißem, quadratischen Hardcover als Buch tarnt: Das schwere Papier, der Umschlag, gefaltete Seiten, Folien – im kleinsten Detail spürt man die Essenz von Jil Sander, ihren Anspruch, ihre Qualität, ihre Mehrschichtigkeit. Alles muss stimmen. Und alles ist stimmig.

Sanders puristische Ästhetik: Linda Evangelista, Winter 1994/95 ( Foto: Peter Lindbergh)
Sanders puristische Ästhetik: Linda Evangelista, Winter 1994/95 ( Foto: Peter Lindbergh)

Auf 360 Seiten präsentiert es die Werkschau einer Ikone. Keine Memoiren, keine Biografie, sondern ein Œuvre über das Œuvre, voller Fotos, Detailaufnahmen, Texte. Auf den zweiten Blick entdeckt man darin Perlen, die unerwartet Privates verraten über den Menschen hinter der Marke. Kaum sind Tasche und Mantel abgelegt, hört man schnelle Schritte. Da ist sie, unverkennbar, Jil Sander: zierlich, zart und genau so vertraut, wie man sie in Erinnerung hat, dieselben Gesichtszüge, derselbe Haarschnitt, ein paar wenige Falten, ein Gesicht ohne Manipulation, alterslos schön.

Die Designerin wurde gerade 81, doch jede Bewegung, jede Geste, jedes Wort
sind voller Energie und Dynamik. Auch ihr Outfit ist modern und sportlich, dunkelblaue Hose, ein Rolli im gleichen Ton, nur ein lila Gürtel blitzt hervor, dazu trägt sie blau-rote Chelsea Boots. Sie begrüßt mich herzlich, bietet Kaffee an und nimmt mir gegenüber Platz.

Der Pariser Flagship-Store. (Foto: Paul Warchol Photography)
Der Pariser Flagship-Store. (Foto: Paul Warchol Photography)

Frau Sander, ist Ihr Buch „Jil Sander by Jil Sander“ ein Geschenk an Sie selbst? Oder eine Hommage an Weggefährten?

Ich glaube, alles, was man vollbringt, schenkt man auch sich selbst. Natürlich feiert das Buch auch Weggefährten wie den Fotografen Peter Lindbergh, den Stylisten Joe McKenna oder den Architekten Michael Gabellini. Wir wollten das Buch eigentlich vor der Frankfurter Ausstellung „Jil Sander Präsens“ 2016 herausgeben. Aber die zeitfüllende Vorbereitung dafür ließ uns das Projekt verschieben.

Ihr Perfektionismus ist ja legendär. Wie lange haben Sie Fotos, Texte und Layout studiert, bis das Buch genau so war, wie Sie es sich wünschten?

Länger als an jedem anderen Projekt: fast zwei Jahre. Für Perfektion gibt es keinen Gradmesser, sie bleibt immer ein Ideal, das man anstrebt. Aber gute Arbeit soll man spüren. Sie soll leuchten und die Qualität haben, die man sich wünscht.

Das Buch ist ein Gesamterlebnis, Optik, Ästhetik, Haptik – ein Genuss. Aber haben Sie in der Rückschau nicht auch über Ihre eigene Leistung gestaunt?

Ich habe mich schon gewundert, wie komplex unser Tun in all den Jahren war. Wir waren vielleicht etwas naiv, aber furchtlos: Wir haben Kollektionen und Kosmetiklinien entwickelt, Shows organisiert, Kampagnen betreut und den Flagship-Stores und Shop-in-Shops eine der Marke entsprechende Architektur und Ästhetik gegeben. Ich habe Stoffe entwickelt, die Produzenten besucht, in unserem Ellerauer Produktionszentrum die Qualität der Ware kontrolliert und permanent im Atelier gefittet.

„Meine Mutter sang beim Kochen und brachte meinem Bruder und mir Leichtigkeit bei“, sagt Jil Sander über die Atmosphäre in ihrer Familie. Studioaufnahme mit fünf Jahren. (Foto: Jil Sander privat)
„Meine Mutter sang beim Kochen und brachte meinem Bruder und mir Leichtigkeit bei“, sagt Jil Sander über die Atmosphäre in ihrer Familie. Studioaufnahme mit fünf Jahren. (Foto: Jil Sander privat)
Dies und ein untrügliches Gespür für Qualität machten Heidemarie Jiline Sander  zu Deutschlands größter Designerin. (Foto: Peter Lindbergh 1991)
Dies und ein untrügliches Gespür für Qualität machten Heidemarie Jiline Sander zu Deutschlands größter Designerin. (Foto: Peter Lindbergh 1991)

Sie standen immer für Unabhängigkeit, Wertigkeit und Erfolg. Für viele waren Sie auch Vorkämpferin für Female Empowerment, was hat Sie zu der werden lassen, die Sie heute sind?

Die Frau aus Klischee-Existenzen zu befreien, das habe ich selbst gelebt, erlebt und auch gefördert. Ich hatte immer einen starken Willen, klare Vorstellungen und wollte oft von üblichen Verfahrens- und Verhaltensweisen abweichen. Es kostet aber auch viel Kraft, sich nicht beirren zu lassen und auf sich selbst zu hören. Aber für mich gab es keinen anderen Weg.

Schon als Kind wollten Sie „…lleine machen!“ Ist Autonomie das Leitmotiv Ihres Lebens?

Ohne Hilfe hätte ich es zu nichts gebracht. Man muss auch Unterstützung für die eigene Vision finden und dann Allianzen schmieden. Meine Autonomie hat sich eher in der Sache ausgedrückt, in konkreten Problemen, die ich auf meine Art lösen wollte. Zu Anfang meiner Selbstständigkeit – ich eröffnete mit 24 meine erste Boutique in Hamburg – habe ich so viel gearbeitet, dass ich selbst von den Studentenprotesten 1968 wenig mitbekam.

In der Schule reagierten Sie allergisch, wenn Lehrerinnen Sie dazu bringen wollten, doch mal süße Kleidchen anzuziehen. Hatten Sie schon eine Vorstellung, wie Sie sich kleiden wollten? Wie äußerte sich Ihr Trotz?

Diesen Trotz kann man ja an Kindern sehen, die ich übrigens zu gern studiere… Sie spüren genau, was ihnen guttut. Damals benahmen sich die strengen Lehrerinnen an der Geschwister-Scholl-Schule oft noch im Geist der Vergangenheit und vertraten entsprechende Frauenbilder. Vermutlich spürte ich, dass sie keine Macht mehr haben durften und dass es im Leben anders zuging. Ich habe mich oft an den Vorstellungen anderer abgearbeitet. Daraus sind dann meine eigenen Visionen entstanden.

Jil Sander Fall/WinterShow 2004/2005. (Foto: picture-alliance/dpa)
Jil Sander Fall/WinterShow 2004/2005. (Foto: picture-alliance/dpa)

Ihre Kindheit in den 50er-Jahren stand im Zeichen des Aufbruchs. In welcher Welt waren Sie damals zu Hause?

Unsere Familie war sehr innig. Wir wohnten unweit der Elbbrücken, in der Nähe einer Schokoladenfabrik. Meine Mutter war immer gut gelaunt, sie sang beim Kochen und brachte meinem Bruder und mir Leichtigkeit bei. Mein Vater starb leider früh, er war Unternehmer und hatte eine Vertretung für Lkw von Magirus-Deutz. Daher bin ich so ein Autofan. Neue Modelle, neue Chassis, das Fahren selbst, das reizte mich schon damals.

War das Wirtschaftswunder auch für Sie spürbar?

Ja, überall wurde gebaut und experimentiert. Nur die Mode war damit beschäftigt, ein gestriges Niveau wiederherzustellen. Die Frauen, die mit Dauerwellen im Haar vor den Borgwards standen, das fand ich furchtbar. Mit 18 konnte ich für ein Jahr nach Kalifornien, später noch mal ein halbes Jahr nach New York, und jobbte dort. Das war ein Geschenk. So sah ich sehr früh eine andere Welt, progressiv und frisch, ohne Trümmer oder den Mief der Nachkriegszeit. Als ich zurückkam, war ich auch weniger schüchtern als zuvor.

Sie wurden in den Sechzigern Moderedakteurin bei „Constanze“ und „Petra“. Wann verließen Sie die Redaktion für die Kreation?

Die Redaktionen waren auch schon Abenteuer, die waren sehr modern drauf. Damals ging es mit den Boutiquen los, mit Punks in London, die so toll aussahen. Der Anstoß zur Kreation war das Angebot eines Konzerns, mit einem neu entwickelten Material, Trevira, eine Kollektion zu entwerfen. Ich hatte bei Fototerminen so oft den Schnitt oder das Material bemäkelt.

Auf die Frage „Können Sie nähen?“ antworteten Sie mal…

(lacht) „Nein, ich kann nur gucken. Ich denke mit den Augen. Ich kann wirklich sehen wie der Blitz.“ – Das kritische Sehen war für mich selbstverständlich: Seit ich denken kann, wollte ich meine Familie in Kleidungsfragen beraten. Erst als ich später mein Modeverständnis erklären und verteidigen musste, wurde mir klar, dass andere viel weniger genau hinschauen als ich.

Ihre Schneiderkunst führte sie von Hamburg nach Mailand und Paris bis in die Londoner Savile Row und machte auch vor kunstvollen Plissee-Architekturen nicht halt. (Foto: Paul Warchol Photography)
Ihre Schneiderkunst führte sie von Hamburg nach Mailand und Paris bis in die Londoner Savile Row und machte auch vor kunstvollen Plissee-Architekturen nicht halt. (Foto: Paul Warchol Photography)

Interessiert es Sie heute noch, welche Kleidung Menschen tragen? Was würden Sie gar nicht durchgehen lassen?

Ich registriere alles. Aber ich mische mich nicht ein.

Entsprach Ihre Mode Ihrem eigenen Charakter: Ihrem Wunsch, eine natürliche Autorität auszustrahlen?

Ja. Ich halte Souveränität für eine Errungenschaft der Zivilisation. Qualität erzeugt eine Magie, etwas, das schwingt wie Musik. Das nehmen auch andere wahr.

Haben Ihre Outfits die damals durchstartenden Businesswomen mit einer eleganten Rüstung ausgestattet?

Das Wort „Rüstung“ mag ich nicht. Ich betone lieber die Gemeinsamkeiten von Männern und Frauen. Wir ziehen ja nicht in den Krieg, wir wollen uns nur wohlfühlen, gestärkt. Denn Kleidung kann auch schwächen, wenn man sich unwohl fühlt.

Was bestärkte Sie als junge Unternehmerin, wenn es mal schwer wurde? Wie viel Mut war nötig, wie viel Irrsinn?

(lacht) Irrsinn sicher nicht, Irrtum natürlich. Meine erste Kollektion bestand nur aus Einzelteilen, die wir im Nu verkauft hatten. Ich sah, dass ich auf ein Bedürfnis eingehe. Mut zum Weitermachen war da keine Frage! Und Rückschläge wurden zu Lektionen. Durch Produktionsfehler etwa lernte ich, die Herstellung intensiv zu begleiten. Meine engste Mitarbeiterin sagte: Frau Sander, irgendwann müssen wir auch mal verkaufen! Dass Menschen sich mir als Unternehmerin anvertrauten, war die stärkste Motivation. Ich wollte sie nicht enttäuschen.

Wedges und ein schräger Rock in Gelb und Weiß: Jil Sanders beschwingter Mix. (Foto: in courtesy of Jil Sander; Penguin Random House Verlagsgruppe)
Wedges und ein schräger Rock in Gelb und Weiß: Jil Sanders beschwingter Mix. (Foto: in courtesy of Jil Sander; Penguin Random House Verlagsgruppe)

1979 lancierten Sie Ihren ersten Duft, „Woman pure“. Haben Ihre Düfte Ihre Mode beflügelt oder umgekehrt? Waren sie als Empowerment und „Rüstzeug“ gedacht?

Ich habe meine Mode und Parfums nicht als „Rüstzeug“ gesehen, ich wollte die Frau in ihrem Selbstbewusstsein unterstützen, aber nicht zur „starken Frau“ machen. Das ist inzwischen zum Klischee geworden. Deshalb waren mir auch die breiten Schultern der 80er-Jahre nicht geheuer. Frauen müssen keinen männlichen Körperbau vortäuschen, sie können sich auch in feminineren Schnitten durchsetzen, solange ihre Kleidung nicht signalisiert, dass sie sich unterlegen fühlen. Die Mode und die Düfte sind nach den selben Prinzipien entstanden, dem Wunsch, den Muff zu vermeiden, Frische und Energie zu transportieren.

Warum sind Sie Hamburg immer treu geblieben? Ist Hamburg Teil der Sander’schen DNA, oder was genau gibt Ihnen das Leben hier?

Die nordeuropäische Mentalität der Zurückhaltung ist mir sehr sympathisch. In meiner Jugend orientierte man sich an Paris oder London, die Hamburger hatten immer eine größere Affinität zur englischen Lebensweise. Es heißt ja: „Wenn es in London regnet, spannt Hamburg die Regenschirme auf.“ Die Herrenbekleidung war von jeher von Stoffen und Schnitten der Londoner Savile Row beeinflusst. Außerdem hat man hier im Norden auch sehr genaues, gnadenlos ehrliches Licht, in dem starke Farben es eher schwer haben. Ein Stoff, der in Mailand wundervoll aussieht, kann in Hamburg völlig durchfallen.

Jeder, der je bei Jil Sander gearbeitet hat, schwärmt von Ihnen. Offenbar können Sie gut motivieren, gut führen, tief prägen. Wie war Ihr Führungsstil?

Ganz einfach: Man sollte sich mit derselben Hingabe für etwas einsetzen, die man sich von den anderen erhofft. Ich habe meinen Mitarbeitern mein Ziel vermittelt, selbst mit angepackt und sie motiviert, nicht aufzugeben. Alle lieben es, wenn es um etwas geht, mit dem sie sich identifizieren können. Wir hielten zusammen wie eine Familie, im Haus gab es auch ein kleines Casino, in dem wir oft zusammen aßen.

In Ihr Headquarter an der Alster luden Sie die ganze Welt.

Hier im Haus haben wir die neuen Kollektionen präsentiert, die Leute reisten für zwei, drei Tage aus Asien an oder aus Amerika. Ich war immer früher als die anderen Designer dran, denn unsere Stoffe mussten ja erst extra für uns gefertigt werden.

„Die Menschen haben so viel Schönes in sich, man muss es nur wecken.“ So ging die Designerin (hier mit Model Thea, 1978 bei ihrer Show in Paris) auch mit ihren Mitarbeitern um. (Foto: Jil Sander privat)
„Die Menschen haben so viel Schönes in sich, man muss es nur wecken.“ So ging die Designerin (hier mit Model Thea, 1978 bei ihrer Show in Paris) auch mit ihren Mitarbeitern um. (Foto: Jil Sander privat)

Gab es mal Momente, wo der eigene Erfolg Sie erschreckte?

Nicht erschreckte! Erfolg eröffnet immer Möglichkeiten und stärkt die eigene Freiheit. Aber erstaunt hat es mich schon, zum Beispiel, dass unser Börsengang so ein Erfolg wurde. Oder dass meine +JKollektionen für die Marke Uniqlo ein globaler Erfolg wurden. Ich hatte für eine Qualität gekämpft, die ich gewohnt war, allerdings zu demokratischen Preisen. Damit wollte ich endlich alle erreichen.

„Die Menschen haben so viele schöne Dinge in sich, die muss man nur wecken“, schreiben Sie. Ist dieses positive Menschenbild ererbt oder erarbeitet?

(schmunzelt) Ich habe diese Haltung, die meine Mutter mir vorlebte, auch in mir gefunden. Auch wenn sie an Grenzen stößt. Aber der gute Wille vermag vieles,
selbst Skeptiker zu überzeugen.

In entscheidenden Momenten Ihrer Karriere sollen Sie durch Sanftmut erreicht haben, was Machtkämpfe kaum ermöglicht hätten. Genügte wirklich Sanftmut?

Natürlich, Sie haben recht, ich bin kein Lamm. Aber in Sanftmut steckt auch das Wort Mut, er wird damit nur für die anderen akzeptabler. Hamburger sind voller preußischer Disziplin. Die erkenne ich auch in mir wieder. Eine wichtige Devise ist „Keine Feinde“. Man konnte mir bei aller Sanftmut immer anmerken, dass ich nicht nachlassen würde.

Können Sie uns ein Beispiel für Ihren Sanft-Mut geben?

Als ich meine erste Boutique schwarz streichen wollte, protestierte die Denkmalbehörde, das ginge nicht. Da habe ich gesagt, „beruhigen Sie sich, gucken Sie, es wird dunkelgrau“. Man muss ein Ziel haben und sich dann sagen, gut, wie komme ich dahin?

Buon Lavoro! – Sander bei ihrer letzten Männer-Show 2013 in Mailand. (Foto: Tullio M.Puglia/Getty Images)
Buon Lavoro! – Sander bei ihrer letzten Männer-Show 2013 in Mailand. (Foto: Tullio M.Puglia/Getty Images)

Sie wollten mit Ihrer Mode „Respekt aufrufen, attraktiv und als Persönlichkeit unangreifbar machen“. Benötigen wir die Definition übers Äußere heute überhaupt noch?

Wir leben in einer mobilen Realität und begegnen täglich Menschen, die uns nicht kennen, da hängt der erste Eindruck von der äußeren Erscheinung ab. Instagram und TikTok befeuern den Fokus auf die Optik. Wenn man auf sich selbst achtet und dem eigenen Eindruck gegenüber nicht gleichgültig ist, strahlt man auch Respekt auf die aus, mit denen man umgeht. Aber es macht für mich einen Unterschied, ob man sich dekoriert oder Understatement kultiviert, ob man ostentativ auf seinen Status und sein Geschlecht hinweist oder lässige Zugänglichkeit signalisiert.

Wie reagieren Sie auf Schlauchboot-Lippen und SilikonHinterteile, auf Beauty à la Kardashian? Ist Sexismus heute nicht präsenter denn je, bewegen Frauen sich zurück?

Ich wundere mich über manche zeitgenössischen Ideale. Aber wie die Mode bewegt sich auch die Körperkultur in Zeitkreisen.

Alle kennen Ihr ikonisches Porträt für „Woman pure“, das der Horst-P.-Horst-Schüler Francesco Scavullo fotografiert hat. Heute sind Sie extrem sparsam mit Fotos. An mangelnder Schönheit liegt es nicht. Woran dann?

Ich hatte vor, ein paar Fotos mit meinem Freund Peter Lindbergh zu machen. Aber Peter starb dann (2019, Anm. der Red.) völlig überraschend.

Ist Älterwerden anders, als Sie es sich als junge Frau mal vorgestellt haben?

Ich spüre das Älterwerden nicht, es wird eher an mich herangetragen. Das ist auch ein Gebiet, auf dem die Emanzipation noch aussteht. Ich habe nach dem Verkauf des Unternehmens für mich den Sport entdeckt, mache Yoga, Pilates, gehe um die Alster. Man wird natürlich ein wenig zeitgeiziger, wenn man ein bisschen fortgeschrittener ist. Aber ich bin noch immer voller Tatendrang und Kreativität.

Jil Sanders Park am Plöner See. (Foto: Courtesy of Jil Sander)
Jil Sanders Park am Plöner See. (Foto: Courtesy of Jil Sander)

Sie teilen ja eine Passion mit Catherine Deneuve: das Gärtnern. Für die Gestaltung Ihrer Gartenanlage in Ruhleben heuerten Sie zu Beginn den Landschaftsarchitekten von König Charles an. Deneuve sagt, sie lerne beim Gärtnern Demut, denn „die Natur siegt immer“. Was fasziniert Sie an Gärten?

Die Natur ist unser aller Lehrmeisterin: Wenn sie siegt, haben wir schnell einen Dschungel. Und im Dschungel setzen sich nur die Stärksten durch. Daher bin ich eher für das Gespräch, den Dialog mit ihr. (lächelt)

Und, wie sieht Ihr gärtnerischer Dialog aus?

Ich war da auch ein bisschen konzeptionell tätig. Wir haben eine japanische Ecke, einen Pflückgarten, einen Gemüsegarten, Rosen. Rosengärten sind kompliziert wie Mathematik: Welche Stauden vertragen sich, welche Farben harmonieren, welche Gestaltung funktioniert? Man weiß auch da nicht, worauf man sich einlässt, aber heute bin ich sehr stolz darauf.

Welche Kunstformen sprechen Sie an?

Ich bin ein großer Bücherfreund, ich gehe gerne ins Kino, aber ich bin noch aufmerksamer für Architektur und bildende Kunst. Privat habe ich mich intensiv mit Gegenwartskunst auseinandergesetzt. Der US-Maler Robert Ryman wurde für mich sehr früh eine Offenbarung: Ich sah seine Bilder in Zürich, alles war in Weiß gehalten, schlicht, aber mit verschiedenen Strukturen. Ich war mit Farben ja immer schwierig. Aber da merkte ich, es gibt auch andere Menschen, die so empfinden wie ich. Das hat mich ein Leben lang begleitet.

Sind Reisen Ihre Passion neben der Kunst? Wie viel Abenteuergeist reitet Sie dabei?

Reisen sind Abenteuer, wie Sie sagen, zu unberechenbar, um zur Passion zu werden. Aber sie erweitern den Horizont. Ich habe an die 50 Länder besucht, das hat mich und meine Arbeit nachhaltig geprägt. Ich habe im Iran die poetischen Gärten bewundert – und erst die Jugend dort! – und in der Mongolei einen der weltweit größten Kaschmirproduzenten.

Und wenn Sie wieder zu Hause in Hamburg sind, wie begegnet man Ihnen auf der Straße?

Sehr herzlich! Es erstaunt mich jedes Mal, wenn sie sich für meine Arbeit bedanken und von ihren Lieblingskleidungsstücken schwärmen. „Sie haben mir Kraft gegeben“, sagte mal jemand. Mir war diese persönliche Beziehung, die meine Mode zu den Menschen hergestellt hat, gar nicht so bewusst.

Würden Sie sich im Rückblick als Glückskind bezeichnen?

Eigentlich bin ich ein Mensch, der lieber nach vorne guckt, in die Zukunft. Aber ich bin dankbar für alles, was möglich war. Die Zeit, in der ich aufwuchs, war für einen Anfang wie meinen günstig. Wenn es dann auch noch ein Glück ist, in seiner Arbeit aufzugehen, dann stimmt das. Dann bin ich ein Glückskind.

Peter Lindbergh fotografierte Sander 1991. Warum es kaum zeitgenössische Fotos von ihr gibt? Nach Lindberghs Tod 2019 wollte sie sich keinem Fotografen mehr anvertrauen. (Foto: Peter Lindbergh)
Peter Lindbergh fotografierte Sander 1991. Warum es kaum zeitgenössische Fotos von ihr gibt? Nach Lindberghs Tod 2019 wollte sie sich keinem Fotografen mehr anvertrauen. (Foto: Peter Lindbergh)

Drei Stunden sitzen wir nun zusammen, weit jenseits aller Erwartungen, weit jenseits von allem Üblichen. Interviews mit ihr sind schon eine Rarität, aber dass ein Rekorder mitlaufen darf, dass ein Frage-Antwort-Text ohne Änderung autorisiert wird, das zeugt von großer Souveränität. Erstaunlich ist überhaupt, wie viel Offenheit, Wärme, Bescheidenheit und Aufgeräumtheit Jil Sander ausstrahlt. Und überhaupt: dass sie so strahlt. Als sei sie mit sich, mit ihrer Arbeit, ihrem Leben, ihrem Schaffen, der Schlüssigkeit ihres Tuns und Seins zufrieden, völlig im Reinen. Vielleicht ist das ja das wahre „Pure“ von Jil Sander.

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