Wenn unsere Helden altern

Ein Essay von Dora Laval

Rollenwechsel (Foto: Adriano Russo)

Für Töchter sind ihre Väter oft Helden. Problemlöser, die auf alles eine Antwort haben. Doch was passiert, wenn Helden alt werden und sich die Rollen verschieben? Unsere Autorin hat eine überraschend schöne Entdeckung gemacht

Wenn Sie wissen wollen, wie man aus zwei Gabeln und Kabelbindern eine Kaffeemaschine baut, müssen Sie meinen Vater fragen. Er liebt es, Probleme zu lösen. Auch solche, von denen Sie gar nicht wissen, dass Sie sie haben. Weil Staubsauger-Schläuche zum Beispiel 80 Prozent ihres Lebens blöd im Weg herumstehen, baut er Ihnen im Handumdrehen aus Drahtbügeln ein aufklappbares Haltersystem. An meiner Grundschule war ich das einzige Kind, das für seinen Turnbeutel einen umgebauten Handtuchhalter am Gepäckträger hatte. Und unsere Dreckwäsche landete vom ersten Stock über ein selbst gebautes Wäscheabwurf-System aus Baustellen-Schuttrutschen direkt im Keller in der Waschküche. Selbst heute, wo ich längst eine eigene Familie habe, ist nichts vor meinem Vater sicher. Wann immer er zu Besuch kommt, hinterlässt er bei seiner Abreise kleine Wunder: Platte Fahrradreifen sind wieder heil, tropfende Wasserhähne dicht und Gemüsebeete mit Schneckenzaun und integrierter Bierfalle versehen. Ertüftelt, konstruiert, gelötet und geflickt von meinem Vater, dem Ingenieur. Meinem Helden.

Mein Vater ist mein persönlicher Harvey Keitel

Ich bin in der Gewissheit groß geworden, dass nichts auf der Welt so aussichtslos, kaputt, schwierig oder unlösbar sein kann, als dass mein Vater es nicht reparieren könnte. Keine Mathe- oder Physik­arbeit, keine noch so steile Skipiste, kein Auto, das versehentlich im Graben landet. Selbst als ein volltrunkener Ex-Freund von mir wegen unerwiderter Liebe im Schnee vor unserer Berghütte kampierte und den Erfrierungstod sterben wollte, fuhr mein Vater den Vollpfosten 150 Kilometer zurück nach München. Mein Vater ist mein persönlicher Harvey Keitel, der im Film „Pulp Fiction“ nach dem Blutbad an die Tür klopft und sagt: „I’m Winston Wolf, I solve problems.“ Den Kaffeebecher, den ich ihm in den Neunzigern, dem Jahrzehnt der Motto-Kaffee­becher, mit diesem Zitat bedrucken ließ, benutzt er heute noch – auch wenn der Zahn der Zeit beziehungsweise der Spülmaschine den Aufdruck längst auf dem Gewissen hat.

Es beginnt zu wanken

Es gab aber noch andere Zeichen, die in den letzten Jahren an dem Abziehbild kratzten, das ich von meinem Vater hatte. Als würde der Kleber nachlassen und die Ecken sich hochrollen. Vor ein paar Jahren beschloss er zum Beispiel, in kein Flugzeug mehr zu steigen. Nicht, weil er plötzlich zum Klimaaktivisten geworden wäre, sondern weil ihm „die Aufregung zu groß“ sei – sein Gepäck war einmal verspätet angekommen, das hatte seine Weltordnung ins Wanken gebracht. Der Mann, der chinesische Karstberge erklommen, im Heißluftballon Kappadokien über- und jordanische Wüstenstädte durchquert hatte, wollte ab sofort nur noch bis zur Mosel und zurück reisen – das brachte wiederum meine Weltordnung ins Wanken. Selbst seine Enkelkinder nahmen die Veränderungen wahr. Nach einem seiner Besuche stand meine Tochter ratlos im Türrahmen ihres Zimmers, mit der seit Wochen losen Türklinke in der Hand: „Opa hat sie gar nicht repariert …?!“

Sorgen bleiben im Tal

Ich habe all diese Zeichen lange erfolgreich verdrängt. Es muss ja schließlich erlaubt sein, es im Alter etwas ruhiger und fauler angehen zu lassen – selbst für einen Helden. Doch dann geschah etwas. Beim Weihnachtsurlaub in unserer Berghütte überredete ich meinen Vater, trotz seiner Bedenken (Zu wenig Sonne! Kein optimaler Schnee!) mit mir auf den Berg zu fahren. Er war damals schon über Siebzig, aber der Mann wurde quasi mit Brettern an den Füßen geboren. Skier waren für ihn lediglich eine Art Winterschuhe. Er schien mir irgendwie trüb-selig, ich machte mir Sorgen, vermisste seine funkelnden Augen, seine Lebensfreude. Er stand morgens auf und starrte so lange aus dem Fenster, bis er irgendwo am Horizont ein Wölkchen entdeckte, um dann sagen zu können: „Ich bleib lieber zu Hause, es könnte heute Nachmittag noch Schnee geben.“ Auf dem Berg würde seine Lebensfreude wieder­kommen, redete ich mir ein, denn so war das immer: Sorgen bleiben im Tal.

Rollenwechsel des Vertrauens

Widerwillig schulterte er seine Zwei-Meter-Latten und stieg mit mir in die Gondel. Oben war die Sicht schlecht, aber das hatte ihn noch nie gestört. Ich behielt ihn gut im Auge, fuhr so unauffällig wie möglich hinter ihm her, damit er seinen Stolz nicht verlor. Doch er fuhr so wackelig und langsam, dass ich Schwierigkeiten hatte, Abstand zu halten. Schließlich stoppte er. Da standen wir nun, beide im Nebel, ich lächelte aufmunternd – und sah seine ängstlichen Augen. Noch nie zuvor hatte ich ihn so verletzlich erlebt. Ich schämte mich. Warum zum Teufel hatte ich ihn in diese Lage gebracht? Um ihn aufzuheitern oder vielmehr um mir einreden zu ­können, dass alles wie früher war?

„Papa“, hörte ich mich sagen, „ich fahr jetzt langsam vor und bring uns runter zur Firnhütte, da kehren wir erst mal ein, in Ordnung?“ Jetzt war er es, der lächelte – und dankbar nickte. Ich fuhr große, weite Bögen, so wie er es mir vor 45 Jahren beigebracht hatte. Wir glitten lautlos durch den Schnee, mir ­liefen nonstop Tränen in die Skibrille, aber irgendwo, zwischen Ziehweg und Mittelstation, machte sich zwischen Vorwürfen und Verzweiflung ein warmes Gefühl breit. Wir hatten einen guten Rhythmus, ich hörte seine Skier hinter mir im Takt schaben, sicher und fest. Tochter voraus, Vater in blindem Vertrauen hinterher. Ich konnte ihm helfen, nicht umgekehrt. Das erste Mal. Ich war sein Mr. Wolf. Zwar war ich es auch gewesen, die ihm das Problem eingebrockt hatte, aber geschenkt.

„Es war eine Mischung aus Stolz, unendlicher Liebe und Dankbarkeit. Dafür, etwas davon zurückgeben zu können, was er all die Jahre für mich getan hatte.“

Dora Laval

Filiale Krise

In der Hütte verloren wir kein Wort darüber, was sich da gerade Bahnbrechendes ereignet hatte. Vielleicht, weil es ihm unangenehm war, vielleicht aber auch, weil es für ihn gar kein so großes Ding war wie für mich, sondern einfach eine familiäre Selbstverständlichkeit.

„Filiale Krise“ nennen Entwicklungspsychologen die Situation, wenn sich vertraute Rollen verschieben. Wenn Kinder sich von dem warmen, bequemen Gefühl der Sicherheit und des Beschütztwerdens lösen und selbst Verantwortung für ihre Eltern übernehmen müssen. Ich glaube, der schwierigste Teil ­daran ist, die Verletzlichkeit zu akzeptieren, das Älterwerden – und damit meine ich vor allem mein ­eigenes. Auf der Skipiste vorzufahren, bedeutet eben auch, sich mit dem Gedanken anzufreunden, in der Generationenfolge ganz vorn zu stehen. Das kann einem Angst machen, weil Endlichkeit nun mal Angst macht, hat aber auch eine schöne Kehrseite: Das Gefühl, meinen Vater unbeschadet durch den Nebel navigiert zu haben, war noch viel größer und inniger als jedes andere, das ich mit ihm verbinde. Es war eine Mischung aus Stolz, unendlicher Liebe und Dankbarkeit. Dafür, etwas davon zurückgeben zu können, was er all die Jahre für mich getan hatte. Eine Seite von ihm zu sehen, die er mir früher nie gezeigt hätte, sein bedingungsloses Vertrauen zu genießen.

Das Gefühl Familie

Zu Hause beim Abendbrot schmückte er die Geschichte zum Thriller aus. Mit Schneestürmen, blanken Eisplatten und kreisenden Hubschraubern. Ich sagte nichts, lächelte ein bisschen in mich hinein, holte eine Flasche Rotwein aus dem Schrank und den Korkenzieher aus der Schublade, mit dem ich groß geworden bin – ein eigenwilliges Modell aus den Siebzigern. Statt der Spirale, die irgendwann ab­gebrochen sein muss, ist in der Mitte mit Sechs­kantmuttern eine riesige Holzschraube montiert. Man braucht ein bisschen mehr Kraft mit dem Ding. Aber wissen Sie was? Es löst dafür beim Schrauben noch mehr als Korken: das warme Gefühl, das man Familie nennt.

Früher bereiste der Vater unserer Autorin die Welt, ging oft mit ihr in die Berge zum Skifahren. Heute ist ihm das alles zu viel Aufwand und Aufregung.