Vom Glück, allein zu verreisen
In unserem Alter schauen wir auf viele mittelgute Urlaubs-Kompromisse zurück – wie wäre es, wenn wir damit aufhören und uns stattdessen selbst entdecken?
Es war das wohl größte Geburtstagsgeschenk zum 50., und sie machte es sich selbst: Meine Freundin Petra schenkte sich eine Reise. Allein. „Einmal nur mit mir selbst sein, meine eigenen Entscheidungen treffen und am Morgen fühlen, was ich am Nachmittag tun will.“ Allein entdecken, allein entscheiden, nur auf die eigenen Bedürfnisse hören … wie viele von uns tun das viel zu selten im Alltag. Zwischen Job, Kindern, Partner oder Partnerin, Eltern, gesellschaftlichen Verpflichtungen und Freunden bleibt wenig Zeit dafür. Mal eine Massage, mal eine Pediküre, diese Mini-Auszeiten im Alltag – klar. Aber mehrere Tage Entscheidungsfreiheit, am besten noch ohne Vorplanung zu Hause, das klingt aufregend.
Single-Reisen liegen im Trend. Dazu muss man freilich kein Single sein, sondern vielleicht nur keine Lust mehr auf Kompromisse haben, weil der Partner in die Berge und man selbst lieber ans Meer will. „Viele Menschen nutzen das Reisen aber tatsächlich auch, um sich selbst zu reflektieren. Wer bin ich eigentlich?“, erklärt die Psychologin und Reise-Therapeutin Christina Miro. Bin ich ein geselliger Mensch oder zieht es mich in die Einsamkeit der Berge? Will ich heute reden oder doch lieber den ganzen Tag niemanden sehen außer vielleicht einer brütenden Seeschwalbe? Will ich den ganzen Tag Tennis spielen oder bin ich mutig genug, einen einsamen Pfad zu wandern – und im schlimmsten Fall den ganzen Tag lang nur einem Muli zu begegnen?
Am besten auf eigene Faust reisen und sich treiben lassen
Möglich sei dieses „Sich-selbst-Kennenlernen“ sowohl auf Pauschal- als auch auf Individualreisen, betont Miro, aber: „Für die Persönlichkeitsentwicklung empfehle ich, die Reise selbst zu organisieren. Denn nur dann ist man wirklich auf sich allein gestellt und muss mit Herausforderungen umgehen. Es ist niemand da, der einen unterstützt – das kann aufregend sein, aber eine große Aufgabe: Problemlösefähigkeiten sind hier gefragt.“
Allein zu verreisen ist eine Art der Persönlichkeitsentwicklung. Denn in dem Moment, in dem man auf sich allein gestellt ist, überwindet man sich oft selbst. Und entwickelt eigene Strategien, mit einer Autopanne oder Verständigungsschwierigkeiten umzugehen. Wir entdecken uns neu und stärken unsere Persönlichkeit – auch wenn die Reise vielleicht am Ende ganz anders verläuft, als wir es erwartet hätten.
Etwas Neues lernen und sich selbst entdecken
Das ist nicht für jeden etwas, dessen muss man sich bewusst sein. Es braucht Mut, wirklich allein loszuziehen. „Aber: Am Ende ist man fast nie und nirgendwo wirklich allein“, weiß Christin Miro. Wer Menschen kennen lernen will, dem wird es wohl nirgendwo anders so leichtfallen wie im Urlaub und auf Reisen. Aber: In erster Linie lernen wir uns bei so einer Reise ganz neu selbst kennen! Neben vielleicht neu erworbener Kompetenzen, neuen Freunden und süßem Nichtstun sollte deswegen auch Zeit bleiben für Reflektionen: „Man kann das Reisen vielleicht als eine Art Selbstfindungsphase nutzen, in der man die Möglichkeit hat, auf Ziele und auf das bisherige Leben zu blicken. Bei so einer Reise die tollsten Visionen und Träume entstehen können. Man fühlt sich einfach frei!“
Tun und lassen können, was (und wann) man will
Und so war es auch bei Petra. Nachdem ihr die Covid-Pandemie erstmal einen Strich durch die Rechnung gemacht und die Pläne für eine Reise nach Tibet vereitelt hatte, entschied Petra sich in diesem Frühjahr recht spontan für eine Woche auf La Gomera. „Ich habe nicht erwartet, dass es so schön sein wird, mit mir allein zu sein“, erzählt sie später. Ein Hotel für die ersten Tage hatte sie von Deutschland aus gebucht, den Rest vor Ort. „Mich hat erstaunt, wie schnell die Entspannung eingesetzt hat, als ich die Freiheit hatte, nur auf mich zu hören und darauf, was mir gut tut.“ Der nächste Allein-Urlaub ist deswegen schon geplant: im Oktober. Wohin, das wird ihr das Bauchgefühl noch rechtzeitig verraten.
Übrigens, für alle, die eine Inspiration brauchen – diese Orte sind bei Alleinreisenden besonders beliebt: Frankreich, Italien, Schweden, Bali, Island, Uruguay, Mauritius und Neuseeland.
