Vergänglichkeitszauber, der (m.)
Qualität ist, was lange hält. Aber warum bewegen uns oft die Dinge am meisten, von denen wir wissen, dass sie vergehen?
Mittags gehe ich gern zu einem Imbiss, der erstens sehr guten Gemüsekebab verkauft, und zweitens nur wenige Schritte von einem Blumenladen ähnlicher Qualität entfernt ist. Er ist irgendwie magisch – der Blumenladen, nicht der Döner – weil er Pflanzen anbietet, deren Namen ich noch nie gehört habe. (Passenderweise hat das Geschäft selbst übrigens keinen richtigen Namen, ich habe extra auf Google Maps nachgesehen. Ich sag’s ja, ein magischer Ort.)
Es ist nicht vorbei
Es war also auf dem Weg zum Lunch, als ich von Orchideen in einer Vase überwältigt wurde. Zugegeben, Orchideen gehören nicht zu den exotischsten Exemplaren. Trotzdem machte der Strauß etwas mit mir. Es lag, glaube ich, weniger an seiner Optik – hübsch war er eh – als an dem Gefühl, das er mir gab. Das Gefühl? Irgendwie traurig, irgendwie schön, schwer zu beschreiben, vor allem ziemlich intensiv. Arbeitstitel: Vergänglichkeitszauber.
Ich schließe nicht aus, dass das Ausmaß dieser emotionalen Reaktion auch meinem Hunger geschuldet war. Den Vergänglichkeitszauber würde ich trotzdem einen mindestens guten Bekannten nennen. Als hätte mein Gedächtnis einen emotionalen Screenshot-Ordner angelegt, kann ich zig Situationen aufzählen, in denen ich ihm begegnet bin. Wenn Flutlichter auf dem Sportplatz das Ende des Tages einleuchten. Wenn die letzte Kerze ausgepustet wird, nachdem sich auch der ausdauerndste Gast verabschiedet hat. Oder wenn ich einen Orchideenstängel in voller Blüte sehe, der in zwei Wochen auf dem Kompost liegen wird.
mono no aware
Es gibt einen japanischen Ausdruck, der etwas ganz Ähnliches beschreibt: mono no aware. Natürlich lässt sich das nur sehr dürftig ins Deutsche übersetzen, versucht worden ist es trotzdem, als „Pathos der Dinge“. Gemeint ist ein besonderes Bewusstsein für die Flüchtigkeit von, na ja, praktisch allem. Dieser Gedanke kann einen melancholisch stimmen, muss er aber nicht. Dass zwei Orchideen neben mir stehen, während ich das schreibe, liegt daran, dass ich ihn gleichzeitig ziemlich tröstlich, ja, sogar motivierend finde. Die Blüten sind meine Version des Carpe-diem-Wandtattoos. Leg das Handy weg, flüstern sie mir zu, schreib schneller, das Leben ist kurz.
Ob ich auch ein bisschen rechtfertigen will, dass ich für zwei dieser Stängel 40 Euro ausgegeben habe, anstatt das Geld in einen monatlichen ETF-Sparplan oder in sechseinhalb vegane Kebabs zu investieren? Möglich. Vielleicht sollte ich aufhören, finanzielle Entscheidungen vor dem Essen zu treffen. Vielleicht wird die Kraft des Vergänglichkeitszaubers auch unterschätzt. Fragen Sie mich am besten noch mal in zehn Tagen. So lange wird es wohl noch dauern, bis ich zugeben muss, dass der seltsame modrige Geruch leider nicht aus dem Müll, sondern aus der Vase kommt.
Autorin Julia Schymura mag neben Orchideen auch Anthurien – die halten ihr aber fast zu lang. Falls kein Blumenladen in Reichweite ist, setzt die Autorin auf die melancholische Musik von „Beach House“, Genre: Dream-Pop.