Spontan-Rührseligkeit, die (f)

Ein Essay von Eva Meschede

Aus der Werbung (Illustration: Hassan Kerrouch)

Tränen kullern, und das Herz geht auf: Dafür reicht oft ein Filmchen, dem wir wider besseres Wissen auf den Leim gehen

Neulich in einem Spot eines globalen Versandhauses: SMS von Mama – „Kannst du bei Oma vorbeischauen?“ Der Enkel steigt vom Moped und ist so mittel begeistert, die Oma freut sich sehr, der junge Mann sieht Fotos aus der Jugend der Oma. Die kleine alte Frau war früher eine Motorradbraut. Der junge Mann zückt das Handy und bestellt. Einen Helm. Das Schlussbild: Enkel und Oma-Sozia düsen glücklich durch blühende Wiesen.

30 Sekunden dauert der Spot, und er überwältigt mich völlig. Mir wird seltsam warm ums Herz, und eine Träne läuft. Würde das Gefühl ein Geräusch erzeugen, dann wäre es ein mit hoher Stimme lang gezogenes Ooooiii oder Meiiii, irgendwas mit „i“ am Ende. Zum Glück kann ich mir das verkneifen, meistens jedenfalls.

Rührseligkeit – das Gefühl wird selten positiv bewertet: „Sich allzu leicht rühren lassend“, erklärt der Duden. Mir sind solche Gefühlsduseligkeiten und Tränchenkullern auch eigentlich peinlich. Diese Spots wurden fürs Clickbaiten oder Verkaufen inszeniert. Das weiß ich und fühle mich reingelegt, weil ich mich von den Geschichten der Meme- oder Werbestrategen spontan ergreifen lasse. Ich will nicht, dass sie sich bei mir Emotionen erschleichen, nach meinem Herz greifen. Ich will echte Gefühle, wahre Rührung ohne spontane Seligkeit. Das sagt sich so leicht, denn es müssen nur ein paar Zutaten gekonnt zusammengerührt werden, und schon geht’s los mit dem Gefühl.

Die wichtigsten Komponenten sind Kinder, Tiere, Oma, Opa, Eltern, Freundinnen, als Gewürze nehme man Mischungen wahlweise aus: Einsamkeit, Traurigkeit, Überraschung, Zusammenhalt, Gemeinsamkeit, Dankbarkeit, Glück, Liebe … Man müsste völlig herzlos sein, wenn man da immer eiskalt bliebe. Etwa wenn ein Golden Retriever ein winziges Katzenbaby zum ersten Mal beschnüffelt und dann zärtlich mit der Schnauze anstupst. Oder wenn ein großer alter Hund sich geduldig von einem sehr kleinen Kind an der Leine führen lässt. Meiiiii!

Wenn ich ehrlich bin, mag ich dieses Gefühl, diese Tränen ohne echten Schmerz. Und ich kann auch nichts dagegen tun, es kommt einfach über mich. So hart kann ich gar nicht werden, ich habe es jahrelang versucht. Wahrscheinlich ist spontane Rühr­seligkeit sogar gesund, weil sie jede Menge Endorphine und Oxytocine, die Glücks- und Bindungshormone, freisetzt. Also wurde ich zwar geleimt, aber es geht mir gut. Und Verluste habe ich auch nicht gemacht. So what?

Jedes Jahr ist Muttertag, ich bin Tochter und Mutter. Und immer schon gewappnet, dass schlaue Storyteller*innen in mir etwas anrichten. Die Spontan-Rührseligkeit ist programmiert, sie regt sich ja schon bei mir, wenn ich nur diese zwei Worte lese: „Danke Mama.“

Autorin Eva Meschede hat sich eine Hitliste der spontanen Gefühle erstellt. Am liebsten ist ihr die Spontan-Lachanfälligkeit. Am wenigsten mag sie den Wutausbruch, hierfür braucht es nämlich oft die Zutat Ungerechtigkeit.