Minilügen-Anxiety, die (f.)

Ein Essay von Bettina Billerbeck

"Es war nur ein Glas" (Illustration: Hassan Kerrouch)

Die Gewissheit, schon vorm Flunkern bei eben solchem ertappt zu werden, kennen wir alle – etwa vom Arzttermin

Pinocchio-Patientin

Wahrscheinlich habe ich noch nie so häufig gelogen wie auf die Frage „Benutzen Sie die Zahnzwischenraumbürste jeden Tag auch zwischen dem Siebener und dem Achter?“, und ich schäme mich dann jedes Mal ein bisschen. Dentalhygienetermine machen mich nervös. Denn ich werde flunkern, und ich weiß, dass die Dentalhygienikerin weiß, dass ich flunkere, was einigermaßen peinlich ist. Und dann noch dieser stille Dialog zum Schluss: Wenn mein Zahnarzt nach der Prozedur vorbeischaut und die Frage „Na, wie sieht’s aus?“ an seine Mitarbeiterin richtet, gibt sie ihm bestimmt ein Zeichen, während sie „eigentlich ganz gut“ sagt. Eine hochgezogene Augenbraue, die signalisieren soll: Die Frau lügt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand tatsächlich jeden Tag Zwischenraumbürsten verwendet – und ich bin mir sicher, ich bin nicht die einzige Pinocchio-Patientin.

200-mal am Tag

Seit den 70er-Jahren hält sich der Mythos, jeder Mensch würde 200-mal am Tag lügen. Diese Zahl geht auf eine Studie des US-Psychologen Jerald Jellison zurück, die allerdings falsch wiedergegeben wurde: Richtig ist, dass wir am Tag 200 Lügen hören, was natürlich etwas völlig anderes ist. Aber, Hand aufs Herz, wir sagen häufig nur die halbe Wahrheit, um in Frieden gelassen zu werden (wenn man ein Restaurant einfach nur schnell verlassen will) oder um nicht noch mehr Geld auszugeben, zum Beispiel in Boutiquen. In Schuhgeschäften ist die Upselling-Lüge wahrscheinlich besonders verbreitet. Wie häufig habe ich schon auf die Frage, ob ich Wildlederpflege und Imprägnierspray besitze, nonchalant „Ja“ geantwortet und versucht, ein nervöses, Hugh-Grant-artiges Augenklimpern zurückzuhalten – weil sie alle wissen, dass man lügt, alle!

Lügen-Umrechner

Am meisten geflunkert wird wahrscheinlich bei Anamnese-Fragebögen auf die Fragen „Wie häufig machen Sie Sport?“ und „Wie oft in der Woche trinken Sie Alkohol“. Allein die Formulierung „Alkohol trinken“ ist doch eine Steilvorlage. Ich wäre mit Sicherheit ehrlicher, wenn man mich nach meinem „Genuss leichter, hochwertiger Weißweine“ fragen würde. Dass Ärzte das genau wissen, liegt auf der Hand, sie haben wahrscheinlich eine innere Umrechnungs-App im Hirn und kalkulieren automatisch ein Drittel drauf (Wein) beziehungsweise ein Drittel runter (Sport). Man fühlt sich im Vorhinein ertappt, was mir so unangenehm ist, dass ich mittlerweile glaube, englische Vorfahren zu haben. Es gibt einen Begriff für das, was da passiert: die „Tendenz der sozialen Erwünschtheit“. Dabei muss einem gerade vor Ärzten eigentlich nichts peinlich sein, ich kenne kaum Mediziner, die den Begriff Nichtraucher nicht definieren als „ich besitze nie Zigaretten, aber wenn ich mich nach zwei Gin Tonics festgequatscht habe, greife ich in jede offene Packung Gauloises blondes legères“. Willkommen im Club, Doc. Hatten Sie eigentlich was aus der Minibar?

Autorin Bettina Billerbeck kennt sich nach zwölf Jahren Chefredaktion bestens mit Befindlich­keiten und deren ­Management aus. Sie nimmt trotz ihrer Minilügenanxiety sämtiche Vorsorgetermine wahr.