Manteltaschen-fundstücksnostalgie, die (f.)
Taschenschätze sind wertvolle Objekte und Ausdruck unserer Fantasie. Die Vergesslichkeit kommt erst später dazu
Mit mangelndem Ordnungssinn hat das gar nicht unbedingt etwas zu tun, finde ich. Also das Auftauchen von Dingen in Manteltaschen. Ich glaube, die wenigsten Menschen nutzen ihre Manteltaschen als Abfallsammelstelle, so wie manche ihre Autos. Das mit den ausgekauten, in Papier gewickelten Kaugummis und den zerknüllten Taschentüchern ist sicher eher dem Umstand geschuldet, zur rechten Zeit keinen Mülleimer gefunden zu haben.
Ich habe übrigens in jeder Wintermanteltasche ein zerknülltes Taschentuch, und das mit voller Absicht. Ist einer der großartigsten Lifehacks gewesen, die ich je im Internet gefunden habe: ein ausgedientes T-Shirt in handliche Stücke schneiden und sich damit die Nase putzen, wenn man Schnupfen hat. Wer das mal ausprobiert hat, wird nie wieder das entzündete rote Ding im Gesicht mit Papiertaschentüchern traktieren, auch wenn da noch so viel draufsteht von Kamille und Aloe vera. Und nach Benutzung, klar, waschen und wieder in die Manteltasche.
Mitnehmenswert
Die wirklichen Schätze landen bei mir aus weniger pragmatischen Gründen in den Tiefen der Taschen. Ich finde sie ganz einfach und stecke sie ein. Selbstredend weder im Supermarkt noch beim Juwelier, sondern draußen in der Natur. Beim Spazierengehen, beim Joggen, im Garten. Das kann ein interessant gefärbter Stein sein, ein bizarres Ästchen oder ein Schneckenhaus. Eicheln, Kastanien, Hagebutten, Federn, Muscheln, bunte Glasscherben.
Ich denke, die Wurzeln liegen in meiner Kindheit. Als wir damals nach den Hausaufgaben bei den Nachbarn klingelten, bis genug Kinder zum Spielen beisammen waren, und dann draußen herumstöberten, bis die Sonne unterging. Womöglich angeregt durch Pippi Langstrumpf, die bekanntermaßen eine begnadete Sachensucherin war, wurden sehr viele Dinge als mitnehmenswert erachtet und ihnen eine Bedeutung geschenkt, die rational schwer zu begründen ist.
Wie bei Kolumbus
Nun, irgendwie ist mir das geblieben, diese Schatzsucherei, in einer sozusagen kuratierten Erwachsenenvariante. Hoffe ich zumindest. Wenn ich darauf angesprochen werde, verweise ich gern sehr belesen auf die Bezeichnung „Serendipität“: etwas finden, nach dem man gar nicht gesucht hat. Ein berühmtes Beispiel ist Christoph Kolumbus, der Amerika entdeckte, als er in Wirklichkeit den Seeweg nach Indien suchte.
Die blau gestreifte Feder vom letzten Herbst in der Manteltasche zu finden, nachdem man die Wintergarderobe vom Speicher geholt hat, ist ein etwas hinkender Vergleich, ich weiß, aber ich liebe einfach diesen nostalgischen Moment, an den hübschen Vogel, der sie verloren hat, zu denken, frage mich, wie es ihm wohl geht, und wünsche ihm alles Gute. Der runde Stein in der anderen Tasche liegt angenehm schwer in der Hand, wie ein kleiner Anker. Ob das erwachsen ist? Ich habe keine Ahnung.
Autorin Susanne Stefanski gehörte bislang zu den Menschen, die wenig verlegen oder verlieren. Seitdem sie neuerdings erstaunliche Funde in ihren Taschen macht, denkt sie über Leinöl nach. Das soll gegen Vergesslichkeit helfen.