Leistungswille - was treibt uns an?
Woher kommt eigentlich Leistungswille? Und woran machen wir ihn fest? Eine Spurensuche von Simone Buchholz
Wenn ich ein bisschen Abstand von mir selbst gewinne, wenn es mir möglich ist, mich von außen zu betrachten, sehe ich eine Hedonistin. Eine blonde Frau mit wippenden Haaren, die sich schwingenden Schrittes in goldenen Schuhen durchs Leben bewegt, die sich in erster Linie an der Welt mit ihren Blumen und Schmetterlingen und Menschen und Musik erfreut, die das Licht genießt und die Lichter der Nacht, die es leicht nimmt. Ich sehe auch immer noch das Mädchen, das diese Frau mal war, ein wildes Ding mit aufgeschlagenen Knien, die auf dem alten, weißen Klapprad ihrer Großmutter so lange über die Felder am Waldrand galoppiert, bis erst die Reifen platzen und dann der Rahmen bricht.
Die verborgene Realität: Leistungsdruck und Arbeitsalltag moderner Frauen
Von außen betrachtet sieht die Frau von heute vermutlich aus wie eine, der das Konzept „Leistung“ herzlich egal, wenn nicht gar vollkommen fremd ist. Bei genauerer Betrachtung ist es natürlich, wie so oft im Leben, anders. Die schwingende Freude und das wippende Haar sind nur mein persönliches, zeitweises Gegengift für das, was mich durchdringt, bestimmt und überhaupt erst in die Welt setzt: Arbeit. Ein Leben ohne kontinuierliche Arbeit kann ich mir weder vorstellen noch wäre es möglich, alles würde zusammenbrechen, mein Konto, meine Verantwortung für ein Kind, mein Selbstbild. Ich arbeite freiberuflich, was einerseits zwar bedeutet, dass ich meine eigene Chefin bin, andererseits bin ich aber auch mein eigener Knecht. Ich besitze nichts, kein Vermögen, kein Sicherheitsnetz, das Wort „Altersvorsorge“ löst bei mir nur hysterisches Lachen aus, wenn ich falle, falle ich in die sofortige Armut.
„Frauen kümmern sich um alles. Oft ein Leben lang. Und wenn sie nachts wach werden, dreht sich in ihrem Kopf das Karussell des „Müssens“ und „Sollens“ …“
Nächtliche Gedanken und eine endlose To-Do-Liste
Nachts erwischt mich das eiskalt, buchstäblich, ich wache auf und friere, und dann liege ich wach, und vielleicht passiert es nicht jede Nacht, aber doch in den allermeisten Nächten. Neben meinem Bett liegen Melatonin, Baldrian, eine dicke, weiche Schlafbrille und sogar Schlaftabletten, angeblich für den Notfall, aber machen wir uns nichts vor, der Notfall ist eher eine Dauerlösung. Worum es da nachts geht: Wie lange schaffe ich das alles noch? Den nächsten Roman, das nächste Hörspiel, den Haushalt, eine gute Mutter sein? Die Miete, die Einkäufe, die Prüfungsvorbereitung mit meinem Sohn, all die Termine, die Reisen, die zu meinem Job gehören? Was, wenn meine Eltern nicht mehr können und meine Hilfe brauchen? Und was mache ich nur gegen die ewigen Augenringe auf den Fotos? Nachts zerteile ich meine Tage in eine endlose Abfolge von Stunden, in denen eine Aufgabe die nächste jagt.
Wie die Arbeitsmoral meiner Eltern mich formte
Manchmal frage ich mich dann, wie es dazu kommen konnte, wann genau ich so geworden bin, und dann finde ich die immer gleiche Antwort – ich bin so zur Welt gekommen, und das liegt an der Klasse, in die ich hineingeboren wurde. Ich habe meine Eltern als fröhliche, optimistische Menschen kennengelernt, aber auch als Menschen, die in einer Tour zu viel arbeiten. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter irgendwann mal nicht gearbeitet hätte. Ja, nach den drei Jahren, in denen sie ihre Mutter gepflegt hat, parallel zu ihrer Vollzeitarbeit, hat sie mal für sechs Monate ein bisschen langsamer gemacht, aber sie arbeitet auch heute noch, sie wird in diesem Jahr 86. Und als mein Sohn noch klein war, und wenn meine eigene Arbeit dann doch mal zu viel wurde, hat sie ihn mir mit großer Selbstverständlichkeit abgenommen. „Bring ihn ein paar Tage her“, hat sie dann gesagt, „damit du in Ruhe arbeiten kannst.“
„Frauen sind die übermüdete Zentrale der Zuständigkeit.“
Wie die Mutter, so die Tochter
Vor ein paar Jahren, als sie mir meine Steuererklärung erklärte, die sie gerade fertig hatte – das ist es, was sie arbeitet, sie arbeitet mit Zahlen und Tabellen, aber sie arbeitet auch im Garten und am Haus, sie kann sogar eine Mauer hochziehen – sagte sie zu meinem Jahresergebnis: „Nicht eingerechnet ist deine unbezahlte Arbeit als Mutter und Hausfrau.“ Meine Mutter ist nicht nur eine sehr tatkräftige und beeindruckend starke, sondern auch eine sehr kluge Frau, in allen Dingen des Lebens, vermutlich weil sie es immer sein musste.
Natürlich wollte ich sein wie sie, schon als ich ein kleines Mädchen war. In einer meiner ersten durchwachten Nächte, an die ich mich erinnere, habe ich nicht geschlafen, weil ich wollte, dass auch meine Kuscheltiere und Puppen und das Lego-Polizeiboot es gut haben, also habe ich mich um meine Spielsachen gekümmert, ich habe sie alle in mein Bett gesetzt und zugedeckt, da war für mich dann kein Platz mehr im Bett, und so saß ich auf dem Fußboden und habe ihren Schlaf bewacht, so wie ich später nachts mein Baby bewacht habe, wenn es schlief.
Warum Frauen die unsichtbaren Managerinnen des Alltags sind
Der Gedanke, für etwas nicht zuständig zu sein, erscheint mir vollkommen abwegig. Denn ich bin ja nicht nur eine Mutter und eine Tochter, sondern vor allem eine Frau, und Frauen sind nun mal zuständig in dieser Welt, sie sind die schlaflose, übermüdete Zentrale der Zuständigkeit. Wofür ich zuständig bin: für die Stimmung im Raum. Für Deeskalation, für die Kommunikation zwischen Männern, für Kommunikation generell. Fürs Geldverdienen, fürs Essen nach Hause schleppen und kochen, für Pausenbrote, fürs Putzen, für einen geraden Lebensweg meines Sohnes. Für Geburtstage, Arzttermine, hausmedizinische Versorgung. Fürs Aufstehen. Für Weihnachten, Ostern, Ferien. Für Romane, Essays, Kolumnen und andere Erzählungen von Menschlichkeit. Für Kampfsportausrüstung. Für Reisepässe, Personalausweise, Impfungen. Für die Wäsche und für die vielen Blumen auf dem Balkon, also auch für Bienen und Hummeln und Stadthonig und dafür, dass alles gut riecht. Außerdem bin ich zuständig für Demokratiearbeit, Kulturpolitik und Menschenrechtsarbeit.
Überlebenskampf: Gedanken über Verantwortung und Privilegien
Das alles mache ich, wenn die Tage lang sind, und oft habe ich das Gefühl, dass es immer noch nicht genug ist, dass ich mich noch um so viel mehr kümmern müsste. Hin und wieder frage ich mich auch, ob es mir nicht doch möglich wäre, die Krim zu befreien, oder die iranische Bevölkerung von der Militärdiktatur. Wenn ich mich nur mal richtig anstrengen würde. Und dann frage ich mich, ob es Leuten, die noch nie arbeiten mussten, etwa von Herkunfts wegen, eigentlich genauso geht. Ob es – Achtung, böse Hexenautorin – Männern eigentlich genauso geht. Ob diese Leute mit ihren vielen, für sie kaum spürbaren Privilegien, auch permanent das Gefühl haben, für alles zuständig zu sein? Oder ob sie glauben, dass sich um die Zumutungen des Lebens schon jemand kümmern wird, im Zweifel irgendeine Frau?
Was ist echte Leistung?
Was mich dann jedes Mal zu der Frage führt, was genau in unserer Gesellschaft als Leistung angesehen wird, was wer unter Leistung versteht und ob das alles wirklich so fair und gerecht ist, wie es tut. Das ist natürlich in erster Linie eine parteipolitische Frage, für die FDP sind die Leistungsträger unserer Gesellschaft andere als für die Linke, für die Grünen andere als für die SPD, der AfD ist es egal, die haben bestimmt alle Hände voll zu tun mit ihren Lügen und ihrem Geschrei und ihrer ständigen Sabotage der Demokratie.
Es ist aber auch eine Frage dessen, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, und was wir dafür tun, menschlich zu handeln. Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen zum Beispiel sind ja gar nicht die, die Arbeit geben, sie nehmen die Arbeit von den sogenannten Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen. Das Geld für diese Arbeit bekommen dann üblicherweise die in Mengen, die die Arbeit nehmen, sie also benutzen. Und was wäre denn, wenn wir etwa für Menschlichkeit entlohnt würden statt für Produktivität? Wenn der große Verdienst, auch der Materielle, an die gehen würde, die Empathie in den Ring werfen und Gemeinsinn? An die, die etwas für die Gesellschaft tun, statt ihr etwas zu nehmen? An Menschen, die zu besonders großer Liebe fähig sind?
„Was es heißt, ein Mensch zu sein, wäre für mich das wichtigste Schulfach.“
Das wichtigste Fach: Menschlichkeit und Empathie
Mir ist klar, dass das alles unausgegoren ist, dass ich bei solchen Gedankenspielen ganz viel hinten runterfallen lasse. Also fange ich noch mal kleiner an, schlichter und deutlicher. Dafür müssen wir ganz am Anfang ansetzen, nämlich bei der Bildung junger Menschen. Ja, lesen und schreiben und rechnen zu können ist wichtig, Mathematik und Literatur sind faszinierend und schärfen nicht nur das Gehirn sondern auch die Sinne. Aber ich wünsche mir ein ganz spezielles und zugleich universelles oder gar universalistisches Fach: was es heißt, ein Mensch zu sein. Und das wäre dann auch das wichtigste Fach in der Abschlussprüfung.
Neulich habe ich mit meinem fast 16-jährigen Sohn über die Pandemie und die langen Monate des Homeschoolings gesprochen, und ich habe ihn gefragt, was er sich in dieser Zeit von seiner Schule gewünscht hätte. Er musste nicht mal eine Sekunde lang nachdenken, er wusste es sofort, und ich glaube ja, dass wir gerade in politischen Fragen mehr auf Kinder und Jugendliche hören sollten, sie sind noch nicht so verbaut im Kopf wie Erwachsene.
Ein Plädoyer für Empathie und Voraussicht
„Nicht so viel Wert auf Leistung legen“, sagte er, „auf Noten, auf den Scheiß-Lehrplan. Lieber mal anerkennen, dass wir gerade eine Pandemie überleben, und uns dankbar sein, dass wir die Alten und Kranken und Schwachen beschützen, weil wir zu Hause bleiben.“ Und dann sagte er noch: „Man hätte uns vielleicht auch einfach mal auf das vorbereiten können, was nach so einer Pandemie kommt, war ja nicht die erste, und ihr wusstet das doch alles, ihr seid die Erwachsenen, und für so was gibt es auch Wissenschaftler.“ Ich fragte ihn, was genau er meint. „Die Depressionen, die dann viele hatten, auch manche Eltern, weil die nicht mehr konnten. Die Wut und die Angst von vielen Leuten, und jetzt die ganzen Rechtsradikalen. Ich hätte das gern vorher gewusst, dass so was kommt. Uns das ehrlich zu sagen, das wäre mal eine Leistung gewesen. Weil, wir müssen ja in der Welt leben, die ihr verkackt habt.“
Das lasse ich jetzt als Fazit stehen, man muss nicht immer noch eins draufsetzen.
Simone Buchholz ist Schriftstellerin, Kolumnistin, Mutter, Board-Mitglied von PEN Berlin. Neben Krimis schreibt sie auch Romane; zuletzt ist „Unsterblich sind nur die anderen“ (Suhrkamp) erschienen.