Horror-Katharsis, die  (f.)

Ein Essay von Eva Meschede

Popcorn schon leer? (Illustration: Hassan Kerrouch)

Manche Menschen entspannen sich bei grausamsten Horrorfilmen, ein Phänomen, das man seit der Antike kennt

Es ist schon unheimlich, denn ich bin gar kein besonders furchtloser Mensch. Nur im Kino kenne ich keine Angst: Dracula und seine zahlreichen Vampirkollegen liebe ich. Wenn „Ledergesicht“ im Splatter-Klassiker „The Texas Chain Saw Massacre“ seine Kettensäge schwingt, muss ich grinsen. Bei „Shining“, die Romanvorlage stammt von meinem Grusel-Großmeister Stephen King, kann ich den Auftritt der gespenstischen Zwillingsmädchen in ihren Rüschenkleidchen kaum erwarten. „The Walking Dead“ finde ich ganz nett. Und irgendwann werde ich mir eine Katze zulegen, eine Maine-Coon mit leuchtend hellgrünen Augen wie Church, der fulminant hinterhältige Wiedergänger-Kater im „Friedhof der Kuscheltiere“-Remake von 2019.

Ich bin Horrorfilm-Fan, je gruseliger und blutrünstiger, desto besser. Es soll ja Leute geben, die nach dem Anblick der roten Faschingsnase des Clowns Pennywise aus „Es“ nächtelang schlaflos blieben. Oder die während der Serie „The Watcher“ kontrollieren, ob die Haustür auch wirklich abgeschlossen ist und es ganz sicher im Keller keinen geheimen Gang zum Nachbarhaus gibt. Bei mir ist genau das Gegenteil der Fall, gruselige Spannung entspannt mich. Vielleicht liegt das daran, dass ich aus einer Generation stamme, in der Grimms Märchen noch als kindertauglich eingestuft wurden und ich mit den überhaupt nicht woken Geschichten von gemeinen Hexen und hungrigen Wölfen aufgewachsen bin. Allerdings hat das Gruselgenre auch bei Jüngeren viel Erfolg. Tatsächlich ist die Anziehungskraft von gesichtslosen Gestalten, dunklen Geheimnissen und total ungerechten Morden über Jahrhunderte gleich geblieben, die Untoten haben ein ewiges Leben und mit ihnen das Theaterblut.

Forscher wie Andrew Scahill von der University of Colorado erklären das mit der sogenannten Surrogat-Theorie. Diese Ersatzangst in sicherer Umgebung zu einer Tüte Popcorn habe sogar therapeutische Wirkung, so Scahill. Eine Katharsis, ein emotionales Abreagieren, das von inneren Spannungen und Sorgen befreit. Schon Aristoteles setzte auf diese Wirkung, die antike Tragödie sollte Seelen reinigen. Oder wie es der verstorbene Regisseur Wes Craven ausdrückte: „Horrorfilme erzeugen keine Angst, sie setzen sie nur frei.“ Diese Freiheit ist aber nicht für alle eine Erlösung, manche blenden die Wirklichkeit lieber bei einem Rosamunde-Pilcher-Epos aus. Eskapismus kennt eben süße wie saure Wege.

Von Horror-Dirigent Craven stammen übrigens berühmte Schocker wie „Nightmare on Elm Street“ und „Scream“. Außerdem: „Hügel der blutigen Augen“, den habe ich noch gar nicht gesehen, hört sich richtig gut an! Kommt auf meine Watch-Liste.

Autorin Eva Meschede findet eher True-Crime-Stories unheimlich. Nach „Aktenzeichen XY“ überlegte sie nächtelang, ob sie den Gesuchten mit der blauen Jacke und schwarzen Hose 2001 an einer Tankstelle in Neuss gesehen hat.