Hilfsbereitschafts-Heuchelei, die (f.)
Manche Menschen haben die besten Absichten (sagen sie jedenfalls) – bei der praktischen Umsetzung hapert es allerdings
Alle tun immer so hilfsbereit, aber wenn es wirklich drauf ankommt, ducken sich die meisten weg!“, ärgerte sich meine Kollegin S. neulich.
Gerade ungüstig
So geschehen im Treppenhaus ihres Hauses, durch das S., gehandicapt durch einen gerissenen Meniskus und einen kaputten Lift, ihre Einkäufe in den zweiten Stock schleppte – und dabei schnittig von einigen ihrer Nachbarn überholt wurde, die, statt superhilfsbereit zu einer schweren Tasche zu greifen, superschnell zu einem Termin, zum Sport oder auch nur aufs Sofa sprinteten. Hilfe für die lädierte Nachbarin, die sich mit ihren Taschen von Treppenstufe zu Treppenstufe am Geländer hinaufzog? Gaaanz ungünstig gerade.
Lassen Sie uns das irritierende Phänomen Hilfsbereitschafts-Heuchelei nennen. Womit nicht in Abrede gestellt werden soll, dass die meisten Menschen gern helfen. S. stieß sich vielmehr an jenen Zeitgenossen, denen ihr hilfsbereites Selbstbild ungleich besser gefällt als dessen praktische Umsetzung – bei der man vielleicht mal ins Schwitzen kommen, unter Umständen seine Tram oder die ersten fünf Minuten des „Tatort“ verpassen könnte. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es.“ Schon Erich Kästner wusste, dass Hilfsbereitschaft auf dem Silbertablett nichts nützt.
„Meld dich jederzeit, wenn du was brauchst“
Dieser Satz ist mittlerweile ein Klassiker geworden. Klingt so großherzig, ist vielleicht auch nett gemeint, bleibt aber meist folgenlos, für alle Beteiligten. Eine Phrase. Die Sache mit Menschen, denen es richtig schlecht geht, weil sie zum Beispiel einen Angehörigen verloren haben oder mitten in einer Depression stecken, ist, dass sie oft schlichtweg nicht wissen, was sie brauchen. Wüssten sie es, ginge es ihnen schon nicht mehr so mies. Wie man es anders machen kann? In ihrem Buch „Logbuch eines unbarmherzigen Jahres“ schreibt die niederländische Schriftstellerin Connie Palmen über Freunde, die ihr nach dem Tod ihres Mannes umstandslos einen großen Topf Suppe vorbeibrachten. Weil Menschen in der Krise das Essen vergessen, obwohl sie es brauchen. Sie hielte es inzwischen genauso, schreibt Palmen.
Wirklich zu helfen, heißt anzupacken, ohne viel zu fragen. Um zu sehen, wo es etwas zu tun gibt, muss man aber offene Augen und Ohren für seine Umwelt haben. Und nicht dauernd on the run sein. Wer es schafft, mit ein bisschen Zeitpuffer aus dem Haus zu gehen oder das Handy in der Kassenschlange mal in der Tasche zu lassen, kriegt so viel mehr mit. Man nimmt dann nämlich nicht nur wahr, dass jemand Hilfe braucht – sondern bemerkt vielleicht auch einen süßen Hund, ein singendes Kind oder ein schönes Lächeln im Vorbeigehen.
Autorin Nina Berendonk glaubt fest an das Gute im Menschen. Zweiflern empfiehlt sie das Buch „Im Grunde gut“ des Historikers Rutger Bregmann – oder die Posts der Instagram-Community „soulseedsforall“.