Hangover-Scham, die (f.)
Ein Gläschen hier, ein Gläschen da: Um den Jahreswechsel häufen sich Gelegenheiten, über die Stränge zu schlagen
Das letzte Mal, dass ich 200 Euro im Geldautomaten vergaß, ist lange her. Es war der flaue Morgen nach meinem 47. Geburtstag, an dem ich vier Dinge über Nacht gelernt hatte: 1. Du verträgst Roederer Cristal ganz schlecht. 2. Die Worte „Fuck you“ sollte man mit Fingerspitzengefühl dosieren. 3. Wenn du meinst, du seist ja gar nicht betrunken, ist es höchste Eisenbahn heimzugehen, und 4. am besten alleine. Das Desaster begann mit der Schnapsidee meiner Freundin: „Komm, wir trinken noch einen Absacker.“ Aus einem Drink wurden zwei, vielleicht waren es auch drei, jeder Mist wurde saukomisch, das Schwere leicht und selbst das Hässliche erträglich. Wir tranken uns das Leben, uns selbst und unsere neuen Bekanntschaften schön, irgendeiner bestellte mitten in der Nacht Pommes, haha, und noch ’ne Runde für alle, und dann der Satz, der dann immer kommt: „Lasst uns noch woanders hingehen!“
Nach Mitternacht bedeutet „noch woanders hingehen“ eine einzige Sache: deinen Untergang. Morgen wirst du dich so sehr schämen, dass du wünschst, alle anderen Beteiligten mögen sich auch nicht mehr so genau daran erinnern, warum du zu deiner besten Freundin „Fuck you“ gesagt hast (aus Eifersucht, wie später mühsam mithilfe von Textnachrichten rekapituliert wird), wo deine Celine genau verloren ging und wie du nach Hause kamst. Du wirst rätseln, wer das nackte Wesen neben dir im Bett ist, warum es deinen Slip auf dem Kopf trägt und dich selbst anschnauzen, wie zum Teufel noch mal deine PUK-SIMS-PIN-Dingsbums lautet, um dein Telefon, das du aus schleierhaften Gründen im Morgengrauen ausgeschaltet hast, wieder in die Gänge zu bringen. Du wirst bitter bereuen, dich nicht abgeschminkt und nicht auf die innere Stimme gehört zu haben, die dir irgendwann beim Blick in den Spiegel dieser coolen Bar zugeflüstert hat: Schätzchen, nach 2 Uhr erfährst du nichts mehr, was du nicht längst selbst weißt. Und stattdessen lieber dem Typen an den Lippen hingst, der lallend feststellte, dein Glas sei leer und du echt eine, Hilfe, tolle Frau.
All diese Einsichten hat man meist nachträglich, weswegen ich 2016 von einer Nacht auf die andere beschloss, meine Energie lieber in Dinge zu stecken, die mir guttun. Und weil dieses Nichtmehrtrinken so viel mehr Spaß machte, als man annehmen könnte, schrieb ich gleich ein ganzes Buch drüber. Der Inhalt ist schnell erzählt: Es gibt wenig Dinge, die mich higher machen, als morgens aufzuwachen und zu wissen, wo meine sieben Sachen und Sinne sich exakt befinden. Von diesem Gefühl könnte ich eine ganze Kiste trinken – und würde immer noch aufrecht stehen.
Das so lustige wie augenöffnende Buch, das Susanne Kaloff über ihre Alkohol-Auszeit geschrieben hat, heißt „Nüchtern betrachtet, war’s betrunken nicht so berauschend“