Freiheit neu denken
Es ist an der Zeit, sagt die Philosophin Rebekka Reinhard, unseren „Möglichkeitsraum“ zu entdecken
Als Kinder konnten wir uns hemmungslos kreischend auf den Boden fallen lassen, wenn uns etwas nicht passte: Wir waren in der Lage, auf direktem Wege unseren Willen durchzusetzen. Nicht immer, aber oft. Wir hatten große Träume, überlegten, ob wir Physikerin, Landwirtin oder doch lieber Mutter von zehn Kindern werden wollten. Oder alles. Die Welt stand uns offen, das ganze Leben lag vor uns.
Der Anker der Gewohnheit
Und nun? Können Sie sich erinnern, wann Sie sich zuletzt so richtig unbeschwert – frei – gefühlt haben? Ich weiß es noch. Es war heute morgen, als mir, während ich ein Glas vom Wohnzimmer in die Küche trug, ein Sonnenkringel ins Auge fiel. Ein schöner Moment, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Kaum dachte ich an die neunundneunzig ungelösten Probleme des Tages, zog das tänzelnde Freiheitsgefühl wieder ab. Ich bin eben nicht mehr fünf, sondern fünfzig. Volljährig. Zuständig. Verantwortlich.
„Sind wir jetzt eigentlich in der Lebensmitte?“, fragte mich eine Freundin später. Gute Frage. Wenn „Lebensmitte“ bedeutet, dass alles sich verändert, unsere Beziehungen, unser Hormonspiegel, unsere Gefühle und Perspektiven, dann ja, dachte ich. Und lachte. Was sind schon neunundneunzig Probleme, wenn sowieso nichts bleibt, wie es ist? Ich kenne Frauen, die mit Mitte vierzig oder auch mit sechzig beruflich neu durchstarteten, und Frauen, die sich scheiden ließen, als die Kinder ausgezogen waren. Genauso viele Frauen kenne ich aber, die eisern an ihrem unbefriedigenden Job, ihrer chronisch schwierigen Beziehung festhalten. Wenn sich alles im Wandel befindet, scheint das Gewohnte der einzige Anker zu sein.
Mit 50 weiß man wie es sich anfühlt, wirklich man selbst zu sein
Dabei ist die Phase, in der wir nicht mehr jung, aber noch lange nicht alt sind, die spannendste überhaupt. Eine Zeitspanne des Übergangs, die voller Chancen steckt. Dass erst dann wahre, tiefe Freiheit beginnt, begriff ich zum ersten Mal durch mein Ehrenamt als klinische „Konsiliarphilosophin“ (so nannten mich die Ärzte). Jahrelang besuchte ich wöchentlich Patientinnen der Psychiatrie und der Onkologie, um mit ihnen über die Dinge des Lebens zu philosophieren. Zu den intensivsten Gesprächen zählten über Monate die Dialoge mit einer krebskranken Lehrerin. Nach dem ersten Rezidiv verließ sie ihren Mann (nicht umgekehrt): „Als stünde man seit Ewigkeiten im Dunkeln und hätte plötzlich den Lichtschalter gefunden“, kommentierte sie lächelnd ihre Entscheidung. Ihr Tumor war für sie kein Hindernis zum Freisein. Im Gegenteil. Nicht zu wissen, wie es mit ihr weitergehen würde, hatte ihr einen Möglichkeitsraum eröffnet, der von Jahren des Kümmerns, Sorgens, Ja-Sagens verdeckt gewesen war.
Ich glaube nicht, dass es erst eine schwere Krankheit oder einen Schicksalsschlag braucht, damit Widerstand gegen das Alte, Lähmende aus uns herausquillt. Vielmehr bin ich inzwischen überzeugt, dass wir alles schon haben, was wir brauchen, um unsere Freiheit neu zu entdecken. Es ist der emotionale Reichtum, den wir im Laufe der Zeit angehäuft haben. Liebe und Angst, Wut und Trotz, Einsamkeit und Langeweile, Freude und Trauer – in der Umbruchphase mittlerer Jahre dominiert das Sowohl-als-Auch. Wir sind geübt in der Klaviatur der Empfindungen, kennen unser Gefühlsrepertoire von „klassisch“ bis „funky“ auswendig. Anders als mit fünf glaubt man mit fünfzig nicht mehr, alles tun und lassen zu können. Dafür weiß man intuitiv, wie es sich anfühlt, wirklich man selbst zu sein. Wenn ich zum x-ten Mal in der gleichen verfahrenen Situation stecke, alle Zeichen auf Wandel stehen und mein inneres Navigationssystem sagt: „Bitte wenden!“, ignoriere ich es nicht mehr. Ich versuche umzukehren (auch wenn die Straße gerade ziemlich eng ist) und einen anderen Weg einzuschlagen. Ich weiß nicht nur, dass es besser so ist, ich fühle es auch. Die Schulter- und Nackenverspannungen lassen nach, die Leichtigkeit kommt zurück.
Ein gutes, sinnvolles, freies Leben ist nie statisch
Stil- und verantwortungsbewusste Frauen wissen, wie wichtig – neben aller Ambitioniertheit – eine spielerische Haltung ist. Wenn ich mich zu sehr auf Kampfmodus konditioniere, vergesse ich zu lachen, verliere jede Spontaneität. Ich neige dazu, meine Existenz wie ein planbares Projekt steuern zu wollen. Aber Leben folgt keiner bestimmten Logik. Sie, ich, wir alle befinden uns, wie Philosophen sagen, in einer kontingenten Wirklichkeit. „Kontingent“ heißt: Alles, was jetzt so und so ist, könnte auch ganz anders sein. Neu. Überraschend. Bunt. „Die ‚A verursacht B‘-Denkweise ist eindimensional und linear, während die Realität mehrdimensional und nicht linear ist“, bemerkte der britische Naturwissenschaftler James Lovelock in seinem hundertsten Lebensjahr. Das Leben ist ein Thriller! So alt wie Lovelock müssen wir nicht werden, um die Wahrheit dieses Satzes zu erfassen. Angenommen, Ihr Leben würde maximal folgerichtig verlaufen. Alles, was Sie je gewünscht und geplant haben, würde genauso eintreffen. Sie würden zum perfekten Zeitpunkt erst den perfekten Partner finden, dann den optimalen Job, dann Ihr Traumhaus. Anschließend würden Sie Kinder in der gewünschten Stückzahl großziehen, ohne Konflikte natürlich, und fortan in totalem Frieden mit sich und der Welt leben. Ihre Energiebilanz wäre trotz aller beruflicher Herausforderungen ausgeglichen wie die einer Zen-Meisterin. Nie hätten Sie Stress mit Ihrer Mutter, nie würden Sie zu Urlaubsbeginn heulen vor Erschöpfung. Alles käme genau wie anvisiert. Würden Sie das ein „gutes Leben“ nennen? Natürlich nicht!
Ein gutes, sinnvolles, freies Leben ist nie statisch. Weder verläuft es geradlinig immer nach oben, noch stagniert es ab einem gewissen Punkt. Es ist immer in Bewegung, mal glücklich, mal unglücklich. Je älter wir werden, desto mehr verlangt es unsere aktive Beteiligung – und ehrliche Antworten: „Was tust du, wenn du an deinem Partner hängst, aber dich urplötzlich neu verliebst?“ „Was machst du, wenn sich dir eine neue Karrierechance bietet, aber dein Körper keine Lust mehr hat, jede Woche in den Flieger zu steigen?“ „Wie entscheidest du dich, wenn du die Wahl hast zwischen Stillhalten und Ausbrechen?“ Da helfen keine Pro-und-Kontra-Listen. Keine Planung der Welt kann das innere GPS ersetzen. Wenn die Seele den Warnblinker aktiviert, ist dies ein Aufruf, bei sich selbst einzukehren. Wenn die Transformationen der Lebensmitte schwierige Entscheidungen nötig machen, gilt es, die eigenen Werte zu überprüfen. Angesichts der Endlichkeit dieses Lebens – und seiner Einzigartigkeit. Für Werte wie Liebe, Wahrheit oder Fairness gibt es kein Maßband, wie „Hard Choices“-Expertin Ruth Chang in ihrem großartigen TED-Talk erklärt. Liebe ist eben nicht Länge mal Breite mal Höhe. Man kann sie nicht planen und absichern.
Die Marc-Aurel-Methode
Jedes Mal, wenn mein Leben mitten im Wandel zu stocken scheint, fragt es mich: „Welche Art von Person willst du sein, für dich und für andere? Wofür lebst du wirklich?“ In dem Freiraum, der sich ergibt, während ich um Antworten ringe, spüre ich den existenziellen Thrill. Aus der Tiefe meiner Gefühle heraus intuitiv und vertrauensvoll den Sprung in etwas Neues zu wagen, ist für mich der ultimative emanzipatorische Akt. Damit der gelingt und belohnt wird, gibt es, glaube ich, nur eine einzige wirklich wirksame Methode: fein säuberlich zu unterscheiden zwischen dem, was jetzt zu ändern in meiner Macht liegt, und was nicht. Um meine Freiheit neu zu entdecken und zu nutzen, folge ich dem Stoiker Marc Aurel: Alles, was momentan oder endgültig außerhalb meiner Fähigkeiten und Möglichkeiten liegt, ist letztlich egal. Äußere Umstände kümmern sich nicht um mich, also warum sollte ich mich um sie kümmern? Wenn ich nicht weiterweiß, kann ich eine kosmische Perspektive auf mein Leben einnehmen. Vom All aus gesehen bin ich ein Stäubchen; jedes Problem, jede Krise schnurrt zu einem winzigen Punkt zusammen. Die Marc-Aurel-Methode hilft, unsere tiefsten Gefühle auf das hin zu kanalisieren, dessen wir jetzt mächtig sind: unsere Werte zu leben und dankbar zu sein für das, was wir erfahren, überstanden, gelernt haben. Auch wenn wir nicht alles können, können wir sehr viel. Lieben, lachen, verzeihen. Und: darauf vertrauen, dass Einsamkeitsgefühle enden können. Dass Wunden heilen.
Ja zu mehr Leichtigkeit
Vertrauen reduziert Komplexität – so der Soziologe Niklas Luhmann. Es befähigt dazu, „Was-wäre-wenn“-Gedanken auszuklammern und heute, nicht erst morgen einen Neubeginn zu wagen. Vertrauen ist nicht passiv wie Glaube, Hoffnung und Zuversicht. Es ist eine Tugend, die enttäuschte Erwartungen nicht ausblendet, sondern eine lebendige, spielerische Trotzhaltung ihnen gegenüber kultiviert. Wenn ich nach vielen Enttäuschungen beschließe, neues Vertrauen in einen Menschen, mich selbst und meine Werte zu setzen, sage ich Ja zu mehr Leichtigkeit. Ein Ja, das vergangene Erfahrungen mitreflektiert – und der Einsicht folgt, dass sich auch meine Einstellungen und Gewohnheiten wandeln können.
Alles fließt, und ich schwimme mit. Ich muss nicht, kann nicht ewig am selben Platz kleben bleiben. Ich kann dem Ruf meiner Gefühle folgen und intuitiv in eine andere Straße einbiegen. Nie weiß ich, wohin der Weg führt. Aber ich kann voller Vertrauen sein, dass ich auf der Reise zur Freiheit nicht allein bleibe. Irgendwer ist nämlich immer da, der oder die signalisiert: Ich bin ein Mensch, ich will auch frei sein. Genau wie du. Ich mach dir Mut, lebendig zu leben.