Fantasiefaulheit, die  (f.)

Ein Essay von Nina Berendonk

Fehlende Neugier? (Illustration: Ekaterina Ananina)

Wenn die Welt besser werden soll, müssen wir lernen, uns selbst nicht für ihren Nabel zu halten, appelliert unsere Autorin

Im Frühling wurde ich Zeugin einer bemerkenswerten kleinen Szene. Es war ein ungemütlicher Morgen mit Nieselregen – und die Laune der Bäckerei-Verkäuferin war noch ein gutes Stück finsterer. „Alles?“, maulte sie den älteren Herrn vor mir an, nachdem sie ihm die gewünschte Brezel auf die Theke gepfeffert hatte, ohne ihm in die Augen zu schauen. Eine Unverschämtheit, wie ich fand.

„Service-Mentalität“ und „König Kunde“

Ich hatte gute Lust, anstelle des Mannes zurückzurüffeln und ihr Stichworte wie „Service-Mentalität“, „König Kunde“ und „verfehlte Berufswahl“ um die Ohren zu hauen. Anders der ältere Herr. Er sah die Verkäuferin freundlich an. „Geht es Ihnen nicht so gut heute?“, fragte er mit aufrichtigem Interesse. Die Frau erstarrte, hob den Blick und sah ihn verdutzt an. Dann stiegen ihr Tränen in die Augen. „Nein, nicht so“, antwortete sie. Der ältere Herr nickte und sagte: „Das tut mir leid. Ich wünsche Ihnen, dass es morgen ein bisschen besser ist.“ Dann verstaute er die Brezel in seiner Manteltasche und verließ die Bäckerei.

Auf dem Weg nach Hause musste ich mir eingestehen, mich soeben bei etwas ertappt zu haben, das mir in vielen aktuellen Diskursen und auch bei der medialen Themensetzung massiv auf die Nerven geht: der Unfähigkeit (oder dem Unwillen?), sich in eine Position außerhalb der eigenen zu versetzen und sich klarzumachen, dass es sinnvolles Leben jenseits der sich immer wieder selbst versichernden Bubble gibt.

Die menscheneigene „Werkseinstellung“

Wie man diese Fantasie-Faulheit in der Praxis überwindet, hatte mir soeben der Herr mit der Brezel demonstriert: Anstatt das schlechte Benehmen der Verkäuferin auf sich zu beziehen – wie ich es getan hätte –, hatte er mit Mitgefühl reagiert. Und damit ihr Verhalten viel eleganter und vor allem effektiver ins Positive gedreht, als mir das mit einem Anschnauzer gelungen wäre. Der hätte ihr vielmehr vollends den Rest gegeben und mir nicht wirklich etwas gebracht. Sich selbst für den Nabel der Welt zu halten, hat der kluge und leider schon verstorbene Schriftsteller David Foster Wallace in seiner berühmten Rede „This is water“ vor Uni-Absolventen gesagt, sei zwar die menscheneigene „Werkseinstellung“. Aber man könne sie überwinden, indem man sich bewusst für Empathie entscheide. Dieses geistige Software-Update, um im Bild zu bleiben, hat so viele Vorteile. Nicht nur für den eigenen Seelenfrieden, sondern auch für unser Zusammenleben und die ganze Welt. Die so viel größer und spannender ist als unsere zwar kuschelige, aber auch unglaublich kleingeistige Schneekugel.

Autorin Nina Berendonk kann die Lektüre von Foster Wallaces Rede in Gänze sehr empfehlen. Die zweisprachige Fassung „This is water / Das hier ist Wasser – Anstiftung zum Denken“ ist bei KiWi erschienen.