Einkaufswagen-Inhaltescham, die (f.)

Ein Essay von Susanne Stefanski

Eingekorbt (Illustration: Hassan Kerrouch)

„Du bist, was du isst!“ – mit diesem Spruch im Hinterkopf lässt es sich wunderbar anderer Leute Einkäufe analysieren

Ich muss gestehen, ich bin eine Voyeurin. Ohne das wirklich zu wollen. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Ich gebe zu: Ich schaue meinen Mitmenschen im Supermarkt in ihre Einkaufswagen, scanne die Einkäufe, und schon fängt es in meinem Gehirn an zu wirbeln. Spätestens an der Kasse geht das los, wenn die Produkte sich auf dem Warenband präsentieren und mir tiefe Einblicke in die Welt des zukünftigen Besitzers bieten. Ich finde diese Einblicke ziemlich persönlich, zuweilen sehr intim. Es geht mir dann ungefähr so wie beim Telefonatemithören in der U-Bahn. Ich meine diese Telefonate, bei denen die Sitznachbarin sich mit ihrem Gynäkologen bespricht oder der Anzugträger einen halb gelungenen Vertragsabschluss rapportiert. Sicher, man kann solche Situationen einfach amüsiert zur Kenntnis nehmen, ich aber tendiere dazu, mich als unfreiwillige Zuhörerin stellvertretend für die Absender*innen der unerwünschten Informationen ein wenig fremdzuschämen. Ich finde diese Situation cringe. Für gewöhnlich suche ich dann das Weite – soweit das in einer U-Bahn eben möglich ist.

An der Ladenkasse kann ich den Beobachterposten natürlich nicht verlassen. Hier heißt es: Augen auf und durch. Die Assoziationskette fängt an zu schnurren, ohne dass der- oder diejenige, die ihre Artikel aufs Band packt, ahnt, dass sie gerade küchenpsychologisch analysiert werden. Der Nerd vor mir kauft eine Taschentücherbox, Wäschehygienespüler und Äpfel im Plastikpack? Oh je, da hat jemand Angst vor dem Leben, deshalb Waschzwang und allergische Nase. Die junge Mutter stapelt Fertiggerichte, Frucht-Quetschies und Süßigkeiten und kommt nicht drauf, warum ihre zwei Kinder rumzappeln, zu blass und zu laut sind. Der Vordermann hat Currywurst für die Mikrowelle dabei, darunter die Flasche Korn versteckt – so wird das nie was mit der Zweisamkeit. Was der konservative Typ wohl mit dem pseudofeinen Pastagericht und den zwei exklusiven Desserts vorhat? Vermutlich Dating-App, Erstkontakt. Mit der Frau, deren Salami billiger ist als das Katzenfutter, möchte ich nicht tauschen, mit der Katze auch nicht.

Ganz bestimmt ist alles ganz anders, klar. Und manchmal fällt mir beim Anstehen auch der Anti-Aids-TV-Spot aus den 80er-Jahren ein, in dem Hella von Sinnen als Kassiererin dem verschüchterten Ingolf Lück eine Packung aus der Hand nimmt und quer durch den Laden brüllt: „Tina, was kosten die Kondome?“ Total lustig. Würde vor mir ein normal großer Mann Modelle in XXL in Schwarz aufs Band legen, nicht auszudenken, was da in meinem Kopf passieren würde …

Autorin Susanne Stefanski kauft gern montags ein. Manche Produkte kosten dann nur die Hälfte, da fast abgelaufen. Zu viele ­orangefarbene Rabattaufkleber sollten in ihrem Wagen aber nicht zu sehen sein