Chanson für die Lebensmitte

Ein Essay von Bettina Billerbeck

Hurra, wir leben noch! (Foto: Adriano Russo)

Warum Freiheit in der Lebensmitte noch mal eine völlig neue Bedeutung bekommt (und was Milva damit zu tun hat)

Durch mein Elternhaus schallte in den späten 70ern häufiger mal ein Chanson von Milva, einer italienischen Sängerin mit eindrucksvoller roter Mähne. „Freiheit in meiner Sprache heißt Libertaaaaaaaaa“, sang sie. Ich hatte damals so eine Ahnung, dass Freiheit offenbar etwas sehr Wichtiges und nichts Selbstverständliches ist. Dass Freiheit auch missverstanden werden kann, lernte ich dann im Laufe des Lebens.

Der Begriff der Freiheit

Wer heute laut „Meinungsfreiheit“ blökt, hat vorher oft jemanden vor den Kopf gestoßen oder verwechselt Meinung mit Behauptung. Der Freiheitsbegriff wird im Moment so häufig gekapert, dass einem angst und bange werden kann. Initiativen werden als Verbote verstanden, die Lebensweise anderer Menschen als Kritik an der eigenen. Das kann Milva nicht gemeint haben (beziehungsweise Oscarpreisträger Ennio Morricone, der das Lied geschrieben hatte). Für die gute, die rücksichtsvolle Freiheit lohnt es sich in jeder Lebensphase zu kämpfen. In der Lebensmitte und danach entsteht sie oft von allein, es öffnen sich Räume, die vorher unerreichbar oder geschlossen waren (oder bewohnt – von Teenagern zum Beispiel). Selbst nach dem Verlust eines geliebten Menschen kann, wenn man sich ausreichend Zeit zur Trauer gibt, irgendwann neue Freiheit wachsen.

Eigene Großzügigkeit

Irgendwann in der Mitte des Lebens legt sich ein Schalter um, bei großen Fragen und bei nebensächlichen. Man redet nicht mehr über Kalorien und deren Verbrennung, sondern über Dinge, die einem entweder guttun oder eben nicht. Man stellt irgendwann sowieso fest, dass die Schlanksten und Glücklichsten unter den Freundinnen immer die waren, die ein natürliches Essverhalten hatten (sehr selten in unserer Generation X). Die essen bis heute Baguette! Das ständige Vergleichen weicht einer geistigen Großzügigkeit, anderen und sich selbst gegenüber. Der Satz „meine Entscheidung ist keine Kritik an deiner Entscheidung“ gräbt sich so ins Bewusstsein, dass man aufhört, jeden Satz im Raum wie einen Luftballon einzufangen und auf sich selbst zu beziehen. Ich kenne Frauen, die mit 30/40 größte Hemmungen hatten, sich im Bikini zu zeigen, und es mit 50 plötzlich wieder tun.

Mid-Life-Abenteuer

Um von Badebekleidung zu den wichtigen Dingen zu kommen: Finanziell niemals von einem anderen Menschen abhängig zu sein, ist die Grundvoraussetzung für Freiheit. Glücklich kann sich schätzen, wer eine 70er-Jahre-Mutter mit dieser Erziehungsmaxime hatte und die ihre Töchter zu maximaler Eigenständigkeit motivierte. Freiheit bedeutet auch, von einem großzügigen Lebensstil problemlos wieder in einen bescheideneren zurückkehren zu können, ohne sich dabei fürchterlich unwohl zu fühlen. Nicht nur für den Fall, dass etwas Unvorhergesehenes passiert. Auch wenn man mit 50 einen inneren Schieberegler bewegt wie auf einem DJ-Pult, den Freiheitsdrang hochfährt und das Sicherheitsdenken runter. Nicht ohne Grund erfinden sich viele Frauen noch mal neu, wenn sie in die Wechseljahre kommen. Man hört von neuen Partnern (oder einer Partnerin), Umzügen, Unternehmensgründungen, Auswanderinnen, ist‘s auch nur ein erobertes und neu eingerichtetes Kinderzimmer. Freiheit bedeutet auch, ehrlich für sich selbst entscheiden zu können, wie viel Mut und Kraft man für sein Mid-Life-Abenteuer aufbringen möchte. In jedem Fall sollte man mal wieder Milva hören. „Hurra, wir leben noch“, ist auch so ein Chanson für die Lebensmitte.