Fügen sie ihrer shopping bag artikel hinzu:

Endlich schmerzfrei? Was Sie unbedingt über Ihre Faszie wissen sollten

Ein Interview von Nicola Vidic
29 Okt. 2024

Die Faszie ist wie ein dreidimensionales Netzwerk zu betrachten - wir müssen ihr Potential erkennen und bestenfalls auch nutzen. (Foto: Zeb Daemen)
Die Faszie ist wie ein dreidimensionales Netzwerk zu betrachten - wir müssen ihr Potential erkennen und bestenfalls auch nutzen. (Foto: Zeb Daemen)

In seinem aktuellen Buch „Die Fitness-Lüge“ erklärt Orthopäde Dr. med. Arvid Neumann, dass man auch ein Leben lang schmerzfrei und geschmeidig bleiben kann, warum nicht nur die Muskeln für Schmerzen verantwortlich sind, und was die Faszie damit zu tun hat.

Davon gehört haben sicher die meisten schon häufiger, aber bitte erklären Sie uns doch als erstes noch einmal, was Faszien überhaupt sind.

Zunächst einmal spreche ich von der Faszie. In meinen Augen existiert sie als ein Gesamtgebilde. Sie in ihrer Gesamtheit zu begreifen, darin steckt ein wesentlicher Schlüssel für unsere Gesundheit. In der aktuellen Medizin, gerade in der Orthopädie, wird hauptsächlich lokal und symptomatisch gedacht und therapiert. Da ist die Patientin mehr „der Rücken“. Oder ein anderer Patient „das Knie“. Wir Menschen sind aber ein gesamtes Lebewesen. Und weit mehr als die Summe aller Einzelteile.

Ich glaube daran, dass eine wirklich ursächliche und individuelle Medizin nur funktioniert, wenn wir uns von dieser Teilbetrachtung lösen.

Und da die Faszie nicht nur die gesamte Körperform bestimmt, sondern als dreidimensionales Netzwerk auch alles mit allem verbindet, müssen wir ihr Potential erkennen und bestenfalls auch nutzen.

Welche Funktion hat dieses dreidimensionale Netzwerk im Körper?

Die Faszie bildet nicht nur ein globales Netzwerk, sie selbst ist formgebend und kreiert sozusagen die Architektur des Körpers: Sie verbindet nicht nur, die Faszie ist das Gerüst. Für mich ist sie das vielleicht vielseitigste Organ im menschlichen Körper und hat ein enormes Potential. Die Faszie hält uns nämlich nicht nur aufrecht (und bereits diese Erkenntnis ist für die meisten neu: Es sind nicht die Muskeln!), sie ist DAS Bewegungsorgan, ein sensorisches und emotionales Organ und ein Interaktions- und Kommunikationsorgan. Das Fasziennetzwerk ist dynamisch und anpassungsfähig – das sollten wir nutzen.

Was muss ich nun tun, um möglichst lange beweglich zu bleiben?

Zuerst sollte man sich fragen: „Was ist mein Ziel? Welche Bewegungen möchte ich in einem bestimmten Alter noch ausführen können?“ Das kann eine bestimmte Zeit lang gehen sein, Treppen steigen oder in die Hocke gehen. Und wenn Sie das erreichen wollen, dann müssen Sie es machen. Wenn ich zum Beispiel viele Stufen hochlaufen können möchte, dann übe ich das am besten mit Treppensteigen. Und warum? Weil jede Bewegung aufgrund der Faszie einzigartig ist, weil es immer einen neuen Zusammenhang dieses faszinierenden, dreidimensionalen Gewebes gibt. Deswegen bringt ein Wiederholungstraining mit immer wieder derselben Übung, wie es sehr häufig im Krafttraining gemacht wird, nichts für den Alltag. Was können Sie denn, wenn Sie zum Beispiel Liegestütze trainieren? Sie haben gelernt, Ihren Körper ganz steif zu halten und die Arme hoch und runterzubewegen. Aber das brauchen Sie im Alltag eher selten.

Trotzdem brauche ich doch starke Armmuskeln, etwa um Dinge zu heben.

Ja und nein. Jedes Mal, wenn Sie zum Beispiel einen Wasserkasten hochheben, ist das etwas anderes. Mal ruft jemand und Sie drehen sich halb um, dann sind Sie im Stress oder der Kasten ist schwerer als sonst. Indem Sie immer dieselben Bewegungen üben, bekommen Sie das nicht hin. Aber Sie können auch nicht jede Situation trainieren.

Deshalb ist es viel besser, ein möglichst großes Bewegungsrepertoire zu erarbeiten, das man dann situationsgerecht in Kraft umsetzen kann. Und das geht über die Arbeit mit der Faszie und dem Nervensystem, denn Kraft entsteht ja nicht nur durch die Muskulatur. Kraft kann auch in der Faszie stecken. Dafür sind kleine Kinder ein gutes Beispiel: Sie haben zwar keine großen Muskeln aber eine erstaunliche Kraft, denn sie bewegen sich mit dem ganzen Körper.

Es geht Ihnen also darum, dass man sich nicht allein auf das Muskeltraining verlässt?

Genau, ich finde es falsch, den Fokus auf den Aufbau von Muskelmasse zu setzen. Schaut man sich Bodybuilder an, wird es deutlich: mit extrem ausgebildeten Muskeln wird man nicht beweglicher, im Gegenteil, solche Menschen wirken eher behäbig. Die Alltagstauglichkeit ist deutlich eingeschränkt. Denn durch Krafttraining werden es nicht mehr Muskeln. Der Einzelmuskel wird nur dicker und je dicker er ist, desto mehr steht er auch unter Spannung. Und wir brauchen in unserer Gesellschaft nicht mehr Spannung. Die Menschen kommen ja nicht zu mir, weil sie so entspannt sind.

Sein Buch „Die Fitness-Lüge. Wie wir die Kraft der Faszie nutzen und ein Leben lang schmerzfrei und geschmeidig bleiben“ (Dumont, 20 Euro) ist gerade erschienen. Foto: Elena Reinsch
Sein Buch „Die Fitness-Lüge. Wie wir die Kraft der Faszie nutzen und ein Leben lang schmerzfrei und geschmeidig bleiben“ (Dumont, 20 Euro) ist gerade erschienen. Foto: Elena Reinsch

Wie bewegt man sich also am besten, um diese Spannung loszuwerden?

Man sollte im Alltag stets auf die Bewegungsqualität achten. Ich kann mich nicht richtig bücken oder nicht richtig joggen, wenn ich noch nicht einmal richtig stehen kann. Zunächst benötige ich also die richtige Körperform, die im Lot und in Balance ist. Dann geht es darum, dass jede Bewegung eine Ganzkörperbewegung ist, jedes Gelenk mitgenommen und nicht festgehalten wird. Sonst werden die Bewegungen steif und abgehackt.

Indem man die Schwerkraft und die Kräfte der Faszie nutzt, schafft man es, sich mit möglichst geringem Energieaufwand, mit möglichst wenig Muskelkraft zu bewegen. Das ist wie bei einem Gummiband. Wenn Sie das in die Länge ziehen und dann loslassen, schnellt es zurück. Und diese Rückstellkräfte haben wir auch in uns. Das wird im Sport etwa beim Weitsprung genutzt und man kann diesen sogenannten Katapultmechanimus auch trainieren.

Gerade in der Menopause wird etwa wegen des erhöhten Osteoporose-Risikos aber oft Krafttraining empfohlen, wie passt das mit Ihrem Bewegungs-Ansatz zusammen?

Knochen sollten nicht ausschließlich fest sein, sie benötigen auch eine gewisse Flexibilität damit Sie nicht brechen. Schließlich sollen Knochenbrüche ja vermieden werden. Und zur Prävention ausschließlich auf Muskelkrafttraining zu setzen, wäre in meinen Augen idiotisch. So wissen wir durchaus von anderen Stellschrauben wie beispielsweise der Ernährung. Es ist ein multifaktorielles Krankheitsbild.

Außerdem: Etwas zu trainieren, was der Osteoporose vermeintlich guttut, dem Rest des Körpers durch vermehrte Spannungen und lokalen Bewegungsmangel aber nicht, ist nicht sinnvoll. Ich weiß, dass das die aktuelle Denkweise ist: Das eine „müssen“ wir fürs Herz-Kreislauf-System tun, das andere gegen Arthrose und dann noch etwas gegen Osteoporose. Das ist mir viel zu viel „müssen“, es fehlt der Genuss. Und ein Mensch ist eine Einheit aus Körper, Seele und Geist.

Knochen und auch andere Gewebe brauchen mechanische Reize. Je vielseitiger wir die äußere Belastung gestalten, desto vielseitiger wirken diese Reize auf den Knochen und stellen eine „flexible Festigkeit“ her. Und dazu muss der Körper an sich erstmal im Lot sein. Also aufrecht und gerade. Sonst hat allein die Schwerkraft 24h am Tag eine eindimensionale Wirkung auf die Knochen.

Der Mensch wird immer krummer, die Bewegungsreize von außen immer einseitiger. Mit einer stabilen Körperform und einer vielseitigen täglichen Bewegung mit hoher Bewegungsqualität legt jeder Mensch eine ausreichende Grundlage, auch präventiv gegen Osteoporose. Reicht das im Einzelfall nicht aus, kann man immer noch zusätzlich Muskelkrafttraining machen.

Und wie ist es mit dem richtigen Sitzen? Viele haben ja regelmäßig Verspannungen im Schulterbereich.

Als erstes nehmen Sie einen Stuhl ohne Lehne und setzen sich nur auf das vordere Drittel. Anlehnen ist nicht sinnvoll und der hintere Oberschenkel sollte keinen Druck von der Stuhlfläche abbekommen, nicht komprimiert werden. Dann kommt es auf die Sitzfläche an, sie sollte parallel zum Boden sein. Ist sie nach hinten geneigt, kippt automatisch auch das Becken nach hinten und man fällt in sich zusammen. Genau andersherum ist die Norm, das Becken also leicht nach vorne gekippt. Dann sitzt man auch ausschließlich auf den Sitzbeinen. Diese Beckenknochen heißen ja nicht umsonst so.

Der Oberkörper sollte leicht nach vorne gelagert sein, sodass der Bauch ausreichend lang ist und weich bleiben kann.

Außerdem sollte das Hüftgelenk höher als das Kniegelenk positioniert sein, damit das Körpergewicht auf die Füße übertragen wird und nicht ausschließlich in den Rücken geht.

Und: Mit einer harten Sitzfläche hören Sie die Stimme Ihres Körpers viel eher. Wenn er Ihnen sagt: Aua, dann ist es Zeit aufzustehen. Denn auch die beste Sitzhaltung ist eine Position und somit nicht ideal. Abwechslung, auch in den Sitzpositionen, ist neben dieser Idealbeschreibung sinnvoll.

Wenn schon für das Sitzen so viele Aspekte beachtet werden müssen – wie trainiere ich dann am besten?

Machen Sie etwas, wobei Sie etwas lernen. Dann können Sie nämlich auch etwas richtig, nicht nur zum Beispiel Liegestütze. Gehen Sie tanzen, bewegen Sie sich einfach aus dem Bauch heraus nach Musik und lassen Sie die Energie fließen. Das ist fast finale Leichtigkeit. Oder spielen Sie Schlagzeug. Da sind Arme und Beine involviert, Sie nehmen den Rhythmus der Musik wahr und Sie haben gelernt, Schlagzeug zu spielen. Das ist doch toll. Selbst Gartenarbeit oder Hausarbeit sind, wenn ich sie qualitativ hochwertig mache, ein super Workout. Springen Sie Trampolin. Versuchen Sie zu klettern. Die Faszie liebt Abwechslung. Seien Sie wie ein Kind. Bewegen Sie sich dynamisch von innen heraus, nach Intuition und bleiben Sie spontan. Das ist auch im Denken sehr gut.

Dr.med. Arvid Neumann ist Sportwissenschaftler, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und Begründer der Faszien-Orthopädie. (Foto: Elena Reinsch)
Dr.med. Arvid Neumann ist Sportwissenschaftler, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie und Begründer der Faszien-Orthopädie. (Foto: Elena Reinsch)

Jetzt Newsletter abonnieren und 10% Rabatt auf unsere MAISON MADAME Produkte sichern!

Name

Sie können sich jederzeit abmelden. Um mehr zu erfahren, besuchen Sie bitte unsere Datenschutzerklärung.

MAD 0125 Cover