Wie viel Stress ist zu viel? Wenn die Belastung lebensbedrohlich wird

Ein Artikel von Ina Küper-Reinermann

Oft wissen wir nicht, wo uns der Kopf steht - das kann schnell zu viel werden. (Foto: Adriano Russo)

Dass Stress lebensbedrohlich werden kann, hat unsere Autorin selbst erlebt. Aber auch, dass er Chancen auf ein erfüllteres Leben birgt

Es rauschte. Drei, zwei, eins, dann ein dumpfer Knall, ein kurzes Rollen – und sie blieb wenige Meter entfernt von mir im Sand liegen. Mein Herz machte einen Satz und ich auch. Ich wäre vor ein paar Jahren mal fast von einer Kokosnuss erschlagen worden. Was laut Google 15-mal wahrscheinlicher ist, als von einem Hai getötet zu werden.

Alles klar, dachte ich damals amüsiert, stressiger als das dürfte es hier nicht werden. Meine Familie und ich waren kurz zuvor auf eine philippinische Insel ausgewandert. Teilweise weil mein Mann in Manila aufgewachsen war, vor allem aber, um endlich der deutschen Dauerhektik zu entkommen. Denn in den ersten Jahren nach der Geburt meiner Tochter ging es mir seelisch und körperlich schlecht. Abgesehen von den zerrütteten Nächten und den nervenzehrenden Kita-Viren versuchte ich nicht nur, eine vorzeigbare Mutter, sondern auch eine weiterhin solide Journalistin zu sein. "Ich mühte mich auf allen Ebenen ab"

Ich meldete mich und meine Tochter zum Babyschwimmen an, engagierte mich bei Bastelnachmittagen, buk zuckerfreies Bananenbrot – und schrieb nebenbei wie am Fließband Texte. Dann, eines Abends, konnte ich plötzlich nicht mehr einschlafen. Sobald ich meine Augen schloss, fing mein Herz an zu rasen. Alles drehte sich, ich schwitzte und hastete ständig zur Toilette.

„Panikattacken“, attestierte man mir in der Notaufnahme, in die ich mich nach der ersten von vielen grauenhaften Nächten begeben hatte. Angstlösende Medikamente sollten es richten, doch die Symptome hielten an. Erst nachdem ich meiner Hausärztin wieder und wieder zu erklären versucht hatte, dass in meinem Körper etwas sehr Körperliches vor sich geht, ordnete sie weitere Tests an und stellte fest: Ich hatte Bluthochdruck. Echten, nicht eingebildeten und ganz eindeutig überlastungsbedingten Bluthochdruck, den es umgehend zu behandeln galt. Ich war gleichzeitig erleichtert und geschockt.

Ich hatte endlich eine Diagnose, aber das bedeutet auch: Ich war gestresst.

„Wie so viele“, sagt Dr. Katharina Grobholz, die als Chefärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in der Privatklinik Jägerwinkel am Tegernsee täglich mit Überanstrengten zu tun hat. „Unser Stress-Level hat in den letzten Jahren zugenommen. Dabei bleibt Druck am Arbeitsplatz für die meisten Deutschen der mit Abstand größte Stressfaktor.“

Der Fachkräfte- und damit einhergehende Personalmangel, so Dr. Grobholz, führe zu teils absurden Anforderungen an Arbeitnehmer*innen. Aber auch das Weltgeschehen – Covid, Kriege, Klimakrise – verunsichere zunehmend. „Es sind auffallend oft Patientinnen zwischen 30 und 50, die sich mit einer entsprechenden Symptomatik an uns wenden. Viele davon berufstätig und mit Kindern.“

Rossy de Palma (M.) in Pedro Almodóvars tragikomischen Film „Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs“ (Foto: ddp)

We care - und zwar sprichwörtlich

Dass Frauen laut Statistik viel häufiger als Männern eine Burnout-Erkrankung oder Depression attestiert wird, liege nicht nur daran, dass sie sich eher Hilfe suchen, sondern auch an einer höheren „Besorgnisneigung“. Das macht Sinn. Schließlich sind wir nicht nur diejenigen, die sich in aller Regel (unbezahlt) um Kinder oder andere Angehörige kümmern, sondern auch die, die Dinge mehr kümmern. We care. Sprichwörtlich.

Ganz gleich, ob es Kinder, pflegebedürftige Eltern, eine komplizierte Partnerschaft, ein unausstehlicher Chef, Zeitdruck, Informationsflut, Geldnot oder so etwas scheinbar Profanes wie die eigenen Gedanken sind: Unser Körper reagiert auf Bedrohung genau so, wie er es schon seit Millionen von Jahren macht. Und dabei kann er nicht unterscheiden, ob es sich um eine lebensbedrohliche Situation oder eine vermeintliche Lappalie handelt.

Geraten wir aus der Ruhe, schüttet unser Körper einen potenten Cocktail an Stresshormonen aus, der uns in Alarmbereitschaft versetzt. Blutdruck und Blutzuckerspiegel steigen, unser Herz schlägt schneller, unsere Bronchien weiten sich. Unnötige Energieräuber wie die Verdauung werden heruntergefahren, die Schmerzempfindlichkeit nimmt ab. Wieso? Weil wir so in der Lage sind, eine Herausforderung zu meistern. Entweder durch Flucht oder durch Kampf.

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„Diese Reaktion ist der Grund, warum es uns heute gibt, und immer noch brauchen wir sie, um uns zu motivieren, Energien freizusetzen und einen klaren Blick zu bewahren“, schreibt die renommierte Stressforscherin Elissa Epel in „Das 7-Tage-Rezept für weniger Stress“ (Ullstein). „Eine gesunde Peak-and-Recovery-Stressreak­tion, in der wir einen kurzen Stressschub erleben, von dem wir uns schnell erholen, ist sogar gut für den Körper.“ Die Wissenschaft weiß inzwischen, dass Stress – richtig dosiert – unser Immunsystem stärken, die Wundheilung ankurbeln und ­unser Gedächtnis schärfen kann. Wären es also nur herabstürzende Kokosnüsse, kurze Schreckmomente, ginge es uns gut. Doch wir sind heute ­einer solchen Bandbreite an Stressoren ausgesetzt, dass wir uns (oft unbewusst) konstant bedroht fühlen.

Chronischer Stress schädigt unsere Zellen, lässt uns vorzeitig altern und kann so gut wie jedes psychische und körperliche Leiden begünstigen: Niedergeschlagenheit, Schlafprobleme, Nacken- und Rückenschmerzen, Migräne, Tinnitus, Verdauungsprobleme, Libidoverlust oder – wie in meinem Fall – Herzbeschwerden. Die Liste ist praktisch endlos.

Nach unserer Auswanderung ging es mir zunächst besser. Ich fühlte mich seltener gehetzt, hatte wieder Freude an meinem Job und konnte sogar meine Blutdruck-Medikamente schleichend absetzen.

Dann kam die Pandemie.

Dann ein Bankrott unseres Bauunternehmers, der mich und meinen Mann alle Ersparnisse kostete. Und schließlich „Rai“, ein Kategorie-fünf-Taifun, der unserem Haus, das endlich so gut wie fertig war, das Dach entriss und die Insel, auf der alles besser werden sollte, in ein Katastrophengebiet verwandelte. Statt mit Kokosnüssen und Haien hatte ich plötzlich mit dem existenziellsten Stress meines bisherigen Lebens zu kämpfen. Ich war ausgebrannt, zynisch und fühlte mich vom Schicksal betrogen.

Doch in dieser Zeit passierte auch etwas anderes:

Meine Perspektive auf das, was mir zugestoßen war, veränderte sich allmählich. Ich realisierte, dass ich etwas aushielt, wovor viele ka­pituliert hätten. Ich war nicht davongelaufen. Ich war stark. Und die psychischen und körperlichen Symptome, die ich in den Monaten nach dem Sturm erlebt hatte – die Verspannungen, die bleierne Erschöpfung, die Hoffnungslosigkeit – legten sich.

Stress kann auch positive Effekte haben

Dass Stress nicht zwingend unser Leben verkürzen muss, ist seit Langem belegt. Forscher der University of Wisconsin-Madison befragten 1998 fast 30 000 Menschen, wie viel Stress sie in den letzten Monaten erlebt hatten und ob sie glaubten, dass ­dieser ihrer Gesundheit schade. Achte Jahre später analysierten sie die Sterberaten in der Studiengruppe – und stellen etwas Erstaunliches fest: Nur für ­diejenigen Teilnehmenden, die viel Stress ausgesetzt und gleichzeitig davon überzeugt waren, dass er sie krank mache, stieg das Risiko eines vorzeitigen Todes um ganze 43 Prozent.

Menschen, die Stress positiv bewerten, weisen in Tests hingegen höhere DHEA-Werte auf. Dehydroepiandrosteron, das wie Cortisol ein Stresshormon ist, fördert neben den zuvor beschriebenen positiven Effekten für die Gesundheit sogar das Gehirnwachstum. Heißt: Wenn wir lernen, die Unwägbarkeiten des Lebens nicht als Gefahr, sondern als Chance zu wachsen zu begreifen, können wir beeinflussen, wie unser Körper darauf reagiert. 

Heute, fast zweieinhalb Jahre nach dem Taifun, verfalle ich immer noch in Hektik, dann versteift sich mein Nacken, mein Magen rebelliert. Doch ich habe etwas verinnerlicht, dass mich grundsätzlich gelassener in die Zukunft blicken lässt: Die Welt geht nicht unter. Selbst wenn es sich vorübergehend so anfühlt.

AUTORIN Ina Küper-Reinermann stand in Deutschland ständig unter Spannung und flüchtete davor auf eine tropische Insel – nur um dort den existenzbedrohenden Stress einer Naturkatastrophe zu erleben. (Foto: ddp)