Weiblich, erfolgreich, alkoholabhängig
Das Klischee vom Alkoholismus ist vor allem eins: männlich. Tatsächlich sind aber immer häufiger auch Frauen betroffen - aus der Mitte der Gesellschaft. Mütter, beruflich erfolgreiche Frauen, Rentnerinnen
Einige Mutige wie die Schauspielerin Mimi Fiedler, die Geschäftsfrau Sandra Fricke oder die Journalistin Nathalie Stüben geben dem Phänomen ein Gesicht.
Mit der Suchtexpertin Dr. Sabine Barry, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefärztin der Johannesbad Fachklinik Furth im Wald, haben wir über weiblichen Alkoholismus gesprochen.
MAISON MADAME: Ist weibliche Alkoholsucht häufiger, als wir denken?
Dr. Sabine Barry: Bei Sucht ist die Dunkelziffer allgemein sehr hoch – es werden ja nur die Personen in Statistiken geführt, die in einer Therapie sind. Wir wissen, dass ein Großteil der Bevölkerung zu viel trinkt: Laut Schätzungen betreiben 10 Prozent einen riskanten Alkoholkonsum, zwei Millionen Menschen gelten in Deutschland als süchtig. Frauen haben hier in den letzten Jahrzehnten deutlich aufgeholt. Während früher Dreiviertel der Süchtigen männlich und ein Viertel weiblichen waren, schätzen wir heute, dass zwei Drittel Männer und ein Drittel Frauen sind. Und da sehr viele von ihnen heimlich trinken, denke ich: Die Dunkelziffer ist bei Frauen noch deutlich größer als bei Männern.
Warum holen Frauen auf?
Dass Frauen trinken, war in der Gesellschaft lange verpönt. Für Männer war es stets ein akzeptiertes Hobby, sich mit Freunden am Stammtisch zu treffen und zu trinken. Wenn ein Mann sich betrank, galt er als toller Hecht; für eine Frau war es eine Schande. Dieses Rollenbild hat sich seit den 1970er Jahren gewandelt. Bis dahin hat es Frauen aber – und das ist auch ein Teil der Wahrheit – vor Alkoholismus teilweise geschützt.
Die Emanzipation ist schuld, dass mehr Frauen trinken?
Sie spielt auf jeden Fall eine Rolle.
„Häufig wird Alkohol benutzt, um ein anderes Ziel zu erreichen“
Dazu passt die Beobachtung des Deutschen Krebsforschungszentrum: Akademikerinnen trinken fast doppelt so häufig riskante Alkoholmengen wie Frauen mit einem Hauptschulabschluss. Von den hochgebildeten Frauen trinken 42 Prozent mindestens wöchentlich Alkohol, aber nur 20 Prozent der Frauen mit niedriger Bildung.
Frauen mit hoher Bildung haben häufig einen anspruchsvollen Beruf und müssen den Spagat zwischen Karriere und Kindern schaffen. Gesellschaftlich wird nämlich immer noch erwartet, dass Frauen diejenigen sind, die sich maßgeblich um die Familie kümmern – die Karriere ist einfach noch dazugekommen. Diese Doppelbelastung, dieses Leistungsdenken setzt die Frauen extrem unter Druck.
Und dieser Druck kann dazu führen, dass Frauen zu viel Alkohol trinken?
Häufig wird Alkohol benutzt, um ein anderes Ziel zu erreichen: Man hat zum Beispiel Einschlafstörungen und merkt, dass man nach einem Glas Rotwein besser einschlafen kann. Oder man trinkt, um runterzukommen, Stress zu bekämpfen. Dieses sogenannte Wirkungstrinken ist immer ein Alarmsignal.
Aber es trinken doch nicht nur Mütter und Karrierefrauen.
Es gibt viele Gründe, warum Frauen zu trinken anfangen. Manchmal steckt ein Trauma oder ein einschneidendes Lebensereignis dahinter – eine Vergewaltigung, ein Jobverlust, der Tod eines nahen Angehörigen. Es gibt aber auch Frauen, die aus Langweile trinken. Das sind meistens die Frauen, die sozial bessergestellt sind. Wenn sie keiner Arbeit nachgehen müssen, wenn der Partner beruflich viel unterwegs ist und erst spätabends oder nur am Wochenende heimkommt – dann hat die Frau viel Zeit, allein etwas zu konsumieren, und keinem fällt es zunächst auf.
Für viele Frauen gehört der Champagner oder der teure Wein einfach zum genussvollen Leben dazu.
Von den Auswirkungen, die Alkohol auf den Körper hat, macht es keinen Unterschied welche Qualität das Getränk hat oder wie es schmeckt: Billiger oder teurer Wein sind gleich gefährlich. Es kommt immer auf die Menge an.
Aber das Glas Rotwein am Abend, schadet doch nicht?
Ein kleines Glas Wein – also 1/8 Liter – gilt als Grenze zum riskanten Konsum. Wenn ich merke, dass ich nicht mehr ein Achtel, sondern ein Viertel Liter Rotwein brauche, um die gleiche Wirkung zu erzielen. Wenn ich das Gefühl habe: Ich kann ohne nicht mehr einschlafen – das fehlt mir. Wenn ich unruhig werde oder merke, meine Stimmung geht runter, wenn ich nicht trinke. Wenn ich zittere oder ein Verlangen entwickle. Wenn ich die Kontrolle verliere und z.B. die ganze Flasche trinke. Dann bin ich möglicherweise abhängig.
Aber es kann doch mal passieren, dass beim Frauenabend nachts um eins jede eine Flasche Wein getrunken hat?
Natürlich kann das mal passieren. Es darf aber nicht zur Regel werden. Wenn wir mal am Wochenende zusammen mit Freudinnen pro Kopf eine Flasche Wein leeren, aber unter der Woche keinen Alkohol trinken, dann ist das kein Risiko. Wenn wir mal eine Woche lang jeden Abend zwei Gläser Wein trinken, dann ist das auch kein Risiko. Aber wenn das einen Monat lang jeden Tag passiert, dann schon.
Wir müssen also darauf achten, dass Alkohol nicht zur Gewohnheit wird?
Genau. Man schläft nicht heute ein und ist morgen alkoholabhängig. Es ist eine schleichende Entwicklung. Häufig merken es die Umstehenden, bevor man es selbst merkt.
Das klingt gruselig.
Oft will man eine Sucht selber nicht wahrnehmen. Wenn mein Partner, meine Partnerin, meine beste Freundin oder mein Kind mich darauf ansprechen, dass ich zu viel trinke, sollte ich drüber nachdenken, ob da nicht etwas dran sein könnte.
Das heißt andersherum: Ich muss es auch ansprechen, wenn Partner:in oder Freund:in zu viel trinkt?
Wenn es mir auffällt – unbedingt. Und wenn das keinen Effekt hat, dann mit mehr Nachdruck. Mit Konsequenzen. Häufig geht es bei einer schweren Suchterkrankung nur noch auf die harte Tour: „Entweder, du gehst in Therapie, oder das war’s mit uns!“ Wenn man immer wieder nachgibt oder sagt: „Ich halte das aus.“ Wenn man beim Versteckspiel hilft und die andere Person deckt. Wenn man sie entschuldigt und Ausreden erfindet, warum sie z.B. nicht zu einem Termin erscheint, eine Abgabefrist nicht einhält, zuhause bleiben muss ... dann gerät man nämlich schnell in eine Co-Abhängigkeit und fördert damit unbeabsichtigt das Suchtverhalten.
Das ist leichter gesagt als getan.
Das stimmt. Es kann helfen, den Hausarzt miteinzubeziehen oder eine Selbsthilfegruppe für Angehörige um Rat zu fragen. Wichtig ist: Als Angehörige trägt man nicht die Verantwortung für die süchtige Person. Mit der Zeit muss man vielleicht lernen, mit dem Wunsch zu helfen gelassener umzugehen.