Trend Eisbaden: Maximal erfrischt

Ein Essay von Carolin Binder

Es sieht so leicht aus (Foto: Adriano Russo)

Ruhig bleiben, tief atmen, sich konzentrieren – und hinterher den Glückskick genießen. Warum kaltes Wasser süchtig macht.

Es ist wieder so weit. „Ich brauch es“, schreibt Uli, „dringend. 13 Uhr an der Weideninsel?” Ich brauch es auch. Also Tee aufsetzen, Tasche packen, warme Jacke anziehen und los. Und dann stehen wir am Isarufer, an den Steinstufen, die bis ins Wasser reichen. Der Fluss sieht freundlich aus, smaragdgrün-klar, eine Ente paddelt vorbei. Offizielle Wassertemperatur für München laut Messstelle des „Gewässerkundlichen Diensts Bayern“: 7,7 Grad. Top-Bedingungen!

100% Kick-Garantie 

Was uns jetzt im März wie den ganzen Winter schon ein bis zwei Mal die Woche an und dann in das kalte Gebirgswasser treibt, ist der garantierte Kick. Ein Hochgefühl, das so zuverlässig einsetzt, wie vor ferner Zeit einmal die Deutsche Bahn fuhr – wenn man wieder das Ufer erreicht hat. Wir sind zu Junkies in Badeanzügen, Neoprenschuhen und Mützen mutiert, das kalte Wasser ist unser Stoff.

Dabei war das Projekt Winterbaden gar nicht geplant. Der Trick bestand darin, einfach am Ende des Sommers nicht mit dem Outdoor-Schwimmen aufzuhören. Schon bei 14 Grad Wassertemperatur im Oktober machte sich auf dem Heimweg eine faszinierende Leichtigkeit breit. Woche für Woche sind wir in die Kälte hineingeschwommen. Möglichst bei schönem Wetter zur Mittagszeit, aber auch unter erschwerten Bedingungen wie Wind, Niesel, Graupel. Auf einmal war schon Dezember – und wir richtig angefixt. Das neue Jahr begrüßten wir am 1. Januar mit einer Runde im Deininger Weiher und dem unwiderstehlichen Gefühl, dass wir doch ziemlich lebendig sind. Und es sich gar nicht schlecht anfühlt, wenn Teenager-Kids über die Aktionen ihrer Mütter den Kopf schütteln.

Der Körper schüttet Endorphine und Adrenalin aus

Menschen, die zur unpassenden Saison in einem Gewässer hocken, konzentriert atmen, die Hände über der Wasserlinie gefaltet – an diesen Anblick hat man sich gewöhnt. Seit der Pandemie ist Winterschwimmen zumindest in den sozialen Medien gefühlt Breitensport. Das liegt auch an dem niederländischen Kälteextremisten „Iceman“ Wim Hof, der eine Atemtechnik zum Eisbaden entwickelt hat, mit der man die Kälte aushält. An der Isar sieht man jedenfalls immer jemanden, der gerade seine Badehose anzieht oder sich bei Ingwer-Tee wieder aufwärmt. Morgens um halb acht unter der Woche würde es hier zugehen wie am Marienplatz, erzählte uns ein Co-Schwimmer mal. Nicht wenige brauchen den Psychokick offenbar, um sich für den Arbeitstag zu wappnen. Der entsteht ExpertInnen zufolge, da der Körper auf den intensiven Kältereiz des Wassers mit der Ausschüttung von Endorphinen und Adrenalin reagiert, Stress- und Angstgefühle werden gelindert.

Eine Frage der Übung

Uli und ich sind in der Kunst des Winterschwimmens noch lange nicht so fortgeschritten, um uns frühmorgens ins Wasser zu stürzen. Unter Eisbadeprofis geben wir eher die Underperformer im Plüschbademantel ab. Seitdem uns eine Spaziergängerin in Daunenjacke im Dezember (Wassertemperatur 5,1 Grad) zuguckte, um dann ernsthaft zu fragen, ob wir schon wieder rausgingen, ruft Uli anderen immer ungefragt zu: „Wir sind noch Anfänger!“

Wir gehen nach Gefühl und ignorieren Zeitvorgaben, wie: eine Minute Eisbaden pro Grad Wassertemperatur. Sechs Minuten in sechs Grad kalten Wasser? Vielleicht nächstes Jahr. Und darüber, wie gesund das eisige Nass etwa für die Herzgesundheit ist, sind sich Kardiologen ohnehin uneins. Allein sollte man das Unterfangen jedenfalls nicht starten. Und übertreiben auch nicht. Unsere Erkenntnis: Es kommt nicht auf die Dauer an, hinterher fühlt man sich trotzdem immer ein bisschen wie neugeboren.

Von der Frostbeule zur Eisschwimmerin

Aber, ja: Wir arbeiten an unserer Kälteresistenz. Härten uns mit kalten Duschen ab, gehen inzwischen nach einer kurzen Pause ein zweites Mal ins Wasser und atmen trotz brennender Oberschenkel seelenruhig weiter. Von der Frostbeule zur Eisschwimmerin in einer Saison – dass das geht, ist eine starke Erfahrung. Was man nicht alles sein kann, auch und gerade Ü45. Sogar seine eigene Glücksgefühl-Fabrik.

Und überhaupt: Neue Situationen, Herausforderungen, die Angst machen – in kaltes Wasser gehen (oder geworfen werden), das passiert doch ständig. Es ist, als würde sich der Körper erinnern, sich absichtlich einem Kälteschock auszusetzen, trägt auch über andere Hürden. Mit all den Weisheiten des Wassers: ruhig bleiben, tief atmen, sich konzentrieren. Und hinterher den Endorphinrausch genießen. Man wird mutiger, ist mehr bei sich. Dinge kümmern einen nicht mehr so. Auch deswegen macht es süchtig.