Die Symbolkraft von Rot

Ein Artikel von Silvia Ihring

Alles auf Rot (Foto: Linda Leitner)

Warum der ausdrucksstärkste aller Töne so berührt und inspiriert (oder sogar verführt)

Manchmal reicht ein Signal. Eine Ampel im Straßenverkehr. Die Lippen eines Menschen. Der Stoff eines Kleides. Die Pinselstriche eines Kunstwerks oder der Schnitt am Finger, wenn beim Zwiebelschneiden das Messer verrutscht ist.

Das sind nur ein paar Beispiele für Momente, in denen die Farbe Rot die Blicke auf sich zieht, Assoziationen weckt und Impulse auslöst. Als Mensch verlässt man sich gern auf Kopf und Geist, doch manche Dinge im Leben berühren das Unterbewusstsein auf eine Weise, die sich nicht immer rational erklären lässt. Und Rot berührt. Eine Farbe, die keine Kompromisse zulässt, keine Unentschlossenheit zugesteht oder Schüchternheit erlaubt. Rot zu sehen bedeutet fast immer, Rot bewusst wahrzunehmen und darauf zu reagieren: mit Sehnsucht oder mit Angst, mit Respekt oder mit Ehrfurcht. Seit Jahrtausenden übt diese Farbe eine besondere Wirkung auf den Menschen aus, verkörpert eine Kraft und Energie, die sich gerade jetzt wieder sehr präsent anfühlt.

Mit Rot imponiert man, mit Rot verführt man

Rote Kleider tauchen vermehrt in den aktuellen Modekollektionen auf, wie bei Bottega Veneta, Fendi und Tory Burch. Während der Mailänder Möbelwoche enthüllte Louis Vuitton im Rahmen seiner „Objets Nomades“-Serie kurvige tomatenrote Sessel aus Samt und Leder, die in Zusammenarbeit mit dem Londoner Designstudio Raw Edges entstanden waren.

Rot fällt sogar mit seiner Abwesenheit auf: Für die Oscar-Verleihung im vergangenen Februar tauschte man den roten Teppich gegen ein champagnerfarbenes Exemplar aus, was, wie zu erwarten war, jeden Gast ein wenig blasser aussehen ließ. Nur Cara Delevingne strahlte in dem Ton, der den Glamour einer solchen Veranstaltung würdig repräsentiert: Sie trug eine rote Robe von Elie Saab mit einer üppigen Blumen­applikation am Träger.

Blicken wir zurück in die Geschichte, sehen wir, dass sich Rot schon früh zum Symbol für Macht und Stärke entwickelte; es schmückte die Umhänge römischer Soldaten und die Schuhe von Kaiser Karl dem Großen – ebenso wie die des Papstes. Mit Rot imponiert man, mit Rot verführt man. Nicht immer auf eine Art, die gesellschaftlich akzeptiert wurde. Noch im antiken Griechenland sollten sich Prostituierte die Lippen rot anmalen, um sich als solche erkennbar zu machen. Doch der Wunsch nach Schönheit verdrängte irgendwann moralische Bedenken. In der Welt der Beauty erfüllen seit jeher viele Kosmetikinnovationen das Bedürfnis, den Teint durch Rot zu beleben. Guerlain präsentierte 1883 den ersten roten Lippenstift. 1932 kamen die amerikanischen Brüder Charles und Joseph Revson auf die Idee, dass Frauen zu roten Lippen rote Nägel tragen wollen. Mit ihrem Unternehmen Revlon lancierten sie den ersten roten Nagellack: „Cherries in the Snow“.

Durch Rot zum ErfolgHerauszustechen wie eine Kirsche im Schnee – diesen Effekt erhoffen sich viele Unternehmen, wenn sie Rot in ihre Logos und die Vermarktung ihrer Produkte integrieren. 2022 präsentierte das Modehaus Ferragamo unter der Leitung des neuen Chefdesigners Maximilian Davis ein neues Logodesign mit einer schnörkellosen Serifenschrift vor einem leuchtend roten Hintergrund. Von Coca-Cola bis Cartier, Prada Sport bis zur Beauty-Linie von Armani: Über das 20. Jahrhundert hinweg bis heute drücken sich Firmen über Rot aus. Nicht selten stehen hinter solchen Entscheidungen persönliche Geschichten, in denen ein Mensch von der Kraft dieser Farbe so verzaubert wurde, dass er sie als Symbol für die Botschaft seiner eigenen Ideen einsetzen ­wollte. Im roten Bann fand sich beispielsweise ein junger Valentino Garavani wieder, als er als junger Student in den 1950er-Jahren eine Oper in Barce­lona besuchte. Im Publikum fiel sein Blick auf eine rot gekleidete ältere Dame. „Neben all den Frauen und ihren Kleidern in anderen Farben erschien sie mir einzigartig, als würde sie aus allem herausstrahlen. Ich habe sie nie vergessen“, sagte der Modemacher einst über diesen Moment. „Ich finde, eine Frau in Rot ist immer wundervoll, sie ist das ideale Abbild einer Heldin.“ Garavani erklärte „Rosso Valentino“ fortan zu seiner Signaturfarbe, die in so ziemlich jeder Kollektion eine Rolle spielen würde. Dass spezifische Codes das Fundament eines jeden Luxushauses bilden, verstand auch Christian Louboutin, als er 1993 aus einem Geistesblitz heraus die Sohle eines Schuh­modells mit dem roten Nagellack seiner Assistentin anmalte. Hätten Louboutin-High-Heels auch ohne diesen Blickfänger Ikonenstatus erreicht? Vielleicht – doch die rote Signalsohle sorgte dafür, dass man sie sofort als Louboutin-Werk identifizieren konnte.

Natürlich half es bei der Vermarktung eines verführerischen Schuhs, dass Rot gemeinhin mit Weiblichkeit, Sinnlichkeit und Liebe assoziiert wird. Marilyn Monroe setzte es daher durchaus strategisch ein: Ihre stets rot geschminkten Lippen waren ein essenzieller Bestandteil der Diven-Persönlichkeit, die sie nach außen hin projizierte, die perfekte Begleitung zu den tief ausgeschnittenen Kleidern und hohen Schuhen, die ihre Rollen kennzeichneten. Ihr Visagist Allan „Whitey“ Snyder verwendete stets mehrere Rotnuancen, schminkte die Lippenränder etwas dunkler und die Mitte heller und kreierte so den perfekten Schmollmund.

Mehr als Rot braucht es nicht 

Nun haben Frauen schon früh gelernt, dass man mit Rot nicht nur andere verführen, sondern sich selbst ermächtigen kann. Als 1912 Mitglieder der Suffragetten durch New York marschierten und für das Wahlrecht von Frauen demonstrierten, teilte die Beauty-Unternehmerin und Unterstützerin der Bewegung Elizabeth Arden rote Lippenstifte aus, sodass die Aktivistinnen neben weißen Kleidern fortan rote Lippen als Symbol von Stärke und Selbstbestimmtheit trugen. Stark ist die Farbe Rot bis heute geblieben. Für die einen reicht ein roter Akzent, um sich für den Tag zu wappnen. Für die anderen muss es eine rote Uniform sein, die in entscheidenden Momenten die richtige Botschaft vermittelt. Es überraschte zum Beispiel wenig, dass Rihanna im vergangenen Februar für ihr erstes Konzert nach sieben Jahren auf dem „Superbowl“ ausgerechnet ein rotes Outfit wählte. Der Overall von Loewe einschließlich metallisch schimmernder Brustplatte, der zu Beginn des Auftritts zu einem ebenfalls roten Cape von Alaïa kombiniert wurde, stach vor dem schlichten Hintergrund aus einer roten Bühne ohne Requisiten und einer ­Armee aus Tänzern in wattierten weißen Schutz­anzügen umso mehr hervor. Rihanna verließ sich auf die Signalkraft dieser Farbe, weil sie nicht nur eine besondere Performance abzuliefern, sondern eine Nachricht zu verkünden hatte: Unter dem Overall wölbte sich der Babybauch, der die zweite Schwangerschaft der Sängerin enthüllte.

Viele mögen Rot zunächst als Farbe verstehen, die viel Mut abverlangt, weil sie einen direkt in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit schubst. Dabei macht Rot einem das Styling leicht: weil es nichts anderes braucht als sich selbst. Ein roter Hosenanzug bedarf keiner glitzernden Schuhe, um an Glamour zu gewinnen, eine Hand mit roten Nägeln keiner Diamantringe, um edler auszusehen. „Rot macht alles klarer, es erhellt, reinigt und offenbart. Jede Farbe sieht neben Rot schöner aus“, sagte einst Diana Vreeland. Die New Yorker Modejournalistin, die zwischen den 1930er- und 60er-Jahren Magazine wie „Harper’s Bazaar“ und „Vogue“ führte, wohnte in einem fast vollständig in Rot eingerichteten Apartment in Manhattan. Rot lackierte Türen trafen auf rote Teppiche, Chintz-Tapeten mit persischen Blüten auf rote Pfingstrosen. Ihrem Innenarchitekten Billy Baldwin hatte Vreeland erklärt, ihr Apartment solle aussehen „wie ein Garten in der Hölle“: ein Ort, in dem rote Energie loderte und der für Vreeland eben deswegen Rückzug und Frieden versprach. Ob man nun diese Art roten Exzess aushält oder nicht, unberührt lässt die Farbe niemanden. Sie könne sich nie vorstellen, dass Rot sie jemals langweilen würde, sagte Vreeland. „Das wäre so, als würde man die Person, die man liebt, langweilig finden.“ Und die Liebe zu Rot wird so schnell nicht aufhören.

„Rot macht alles klarer, es erhellt, reinigt und offenbart. Jede Farbe sieht neben Rot schöner aus.“