Schmerz-Tsunami - ein Leben mit Migräne
„Ich habe Migräne“ – für unsere Autorin ist das keine Ausrede, sondern bittere Realität. Was ihr hilft und wie sie lernte, mit der Krankheit zu leben.
An alle, die keine Migräne haben: Bitte lesen Sie weiter. Weil wir Migräne-Patient*innen einfach keine Energie dafür übrighaben, unseren Schmerz zu erklären. Mit hoher Wahrscheinlichkeit haben Sie eine*n in ihrem Umfeld. Im Job, in der Familie oder im Freundeskreis. 18 Millionen Menschen leiden allein in Deutschland an Migräne, die – so konnte ein Forscherteam 2005 nachweisen – in den meisten Fällen genetisch vererbt wird. Diese Menschen sagen oft ab. Im letzten Moment vor einer Party, einem Abendessen, einem Ausflug. Oder sie melden sich krank, und die Kolleg*innen rollen mit den Augen. Aber ihre Migräne ist keine Ausrede. Ihre Migräne bestimmt ihr Leben, wie ein Diktator.
Migräne ist, einfach zusammengefasst, die Reaktion des Gehirns auf alle möglichen Reize. Zu viel Stress oder die Entspannung danach, Flackerlicht, Alkohol, Geruch oder Lärm, Blutzucker- oder hormonelle Schwankungen, all das kann einen Anfall auslösen. Ja, wir sind Sensibelchen, aber anders als man denkt: Die Reizverarbeitung im Hirn arbeitet bei uns schneller als bei anderen, unser Nervensystem ist ständig unter Hochspannung. Too much information, und schon bricht die Versorgung der Nervenzellen zusammen, die sodann wie wild schmerzauslösende Botenstoffe entsenden. Migräne ist also eigentlich eine Schutzfunktion, die sagt, bis hierhin und nicht weiter. Sie wird oft als einseitig, dumpf, pochend, hämmernd beschrieben. Aber das beschreibt es unzureichend.
Die Beschreibung eines unbeschreiblichen Schmerzes
Versuchen wir es also mal anders. Migräne ist eine Tsunami-Welle. Sie kommt ganz langsam – der Kopf tut noch gar nicht weh, aber es macht sich eine lähmende Schwere im Körper breit. Oder wahnsinnige Traurigkeit. Oder manische Energie. Die Welle türmt sich dann plötzlich wie ein wildes Monster auf und reißt alles mit. Presslufthammer hinter den Augen, sagen die einen, ich sage: Der Teufel haut einem einen riesigen Nagel in den Kopf, und manchmal dreht er dran rum.
Alle Facetten von Schmerz bleiben entweder auf einer Seite – oder sie wandern in die Stirn und in den Nacken. Gern auch auf die andere Seite. Davon wird einem so schlecht, dass man kotzt. Stundenlang. Noch nicht mal ein kleiner Schluck Wasser bleibt drin. Dann, nach Stunden oder manchmal drei Tagen, zieht sich die Welle zurück, und es herrscht Ruhe. Aber da, wo sie gewütet hat, bleiben Trümmerberge. Jetzt gilt es aufzuräumen. Die Job-Deadlines vielleicht doch noch einzufangen. Die vernachlässigten Kinder aufzumuntern, sich bei enttäuschten Freund*innen und Kolleg*innen zu entschuldigen. Meistens ist dieser Aufräumakt so anstrengend, dass sich gleich die nächste Schmerzwelle auftürmt. Aber für Erholung bleibt nie Zeit. Als Migräniker*in rennt man immer nur der Zeit hinterher, die man im Dunkeln liegend verloren hat.
Zeit fern vom sozialen Leben
Die Weltgesundheitsorganisation stuft Migräne übrigens als zweitbehinderndste chronische Krankheit ein – im Hinblick auf die Lebensjahre, die einem dadurch verloren gehen. Im schlimmsten Jahr meiner Migräne-Biografie kam ich auf 15 Schmerztage pro Monat, also sechs Monate Dunkelheit. Eine Zeit, in der ich nicht am sozialen Leben teilnehmen, nicht an meiner Karriere feilen konnte. Dass es beruflich irgendwie geklappt hat bei mir, verdanke ich Leuten, die hinter mir standen (meine erste Chefin), und der typischen Migräne-Stehaufmännchen-Mentalität. Einen Job verlor ich, zu einem anderen schleppte ich mich mit Schmerzen, weil weniger Verständnis für Schwäche da war (meine letzte Chefin). Da lag ich dann, wenn die Tür zu war, unter meinem Schreibtisch und wartete auf das Einsetzen der Wirkung meines Triptans, manchmal unter Tränen.
Linderung in Sicht? Wie Triptane helfen können
Triptane sind das Beste, was die Pharmabranche je erfunden hat. Sie veränderten mein Leben, als sie auf den Markt kamen, damals war ich 15. Zum ersten Mal war da das Gefühl, die Schmerzen allein in den Griff bekommen zu können, ohne Opioid-Infusionen in Notaufnahmen (die, so weiß man längst, weit weniger effektiv bei Migräneschmerz sind). Es gibt mittlerweile eine Bandbreite verschiedener Triptane. Sie ähneln Serotonin, verengen schmerzhaft erweiterte Blutgefäße und hemmen die Ausschüttung von Entzündungsstoffen. Die einen wirken schnell und kurz, die anderen eher langsam, es gibt Nasenspray, Tabletten oder Injektionen. Kombiniert werden sollte jedes Schmerzmittel mit einem Antiemetikum gegen die Übelkeit, weil der Magen seine Funktion während eines Anfalls einstellt. Seit 2022 ist außerdem eine Art monatliche Selbstimpfung auf dem Markt (z. B. Aimovig). Diese Immuntherapie liefert gute Erfolge bei schweren Fällen. Aber all dieses Wissen muss man sich erst mal erarbeiten – und den Arzt oder die Ärztin finden, die das alles weiß. Laut der Schmerzklinik Kiel gehen pro Jahr 900 000 Menschentage an die Krankheit verloren, und ein Großteil der Nichtbetroffenen hat noch nicht mal einen Namen für ihr Leiden außer: Kopfschmerzen. „Willst du eine Aspirin?“ Diesen schlimmsten gut gemeinten Spruch habe ich schon sehr oft in meinem Leben gehört. Und von Ärzt*innen: „Ich schreib Ihnen mal was zur Beruhigung auf.“ Was in einer Valium-Abhängigkeit endete.
Die Hoffnung auf Erlösung
Meine erste Migräne hatte ich schon in der Grundschule. Dass auch kleine Mädchen Migräne haben können, wusste man nicht. Heute ist Kindermigräne anerkannt, was mich glücklich macht, weil Kinder endlich die Chance auf die richtige medizinische Betreuung haben, die man bei Neurolog*innen findet, idealerweise in einer spezialisierten Kopfschmerzambulanz. Nicht bei Psycholog*innen, Osteopath*innen, Homöopath*innen, im Ayurveda oder beim HNO (der mir die Nasenscheidewand mit dem Versprechen operierte, mich von meinen Schmerzen zu befreien). All das probiert man, weil man die Hoffnung auf Erlösung nicht aufgeben will. Aber die Erlösung liegt nur darin, Migräne zu akzeptieren. Und in den richtigen Werkzeugen, um sie zu managen. Ich lernte sie mit 30 kennen, als ich mich in die Schmerzklinik in Kiel einlieferte. Meditation, drei Liter Wasser am Tag, Bewegung, regelmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus, solche spießigen Sachen. Dass das keinem modernen Menschen immer gelingt, ist klar. Aber es gilt, wenn die Welle einen mal wieder komplett weggezogen hat, immer wieder an diesen aufgeräumten Strand zurückzufinden.
Das ganze Leben eines Migränikers funktioniert in Wellen. Nach Monaten der Hölle ebbt sie für Wochen, Monate oder Jahre ab. Und just in dem Moment, in dem man denkt: geheilt!, brandet sie wieder auf. Und wischt die glücklichen Zeiten weg, in denen man plötzlich Zeit für Freunde, Hobbys, Arbeit hatte. Wie ein ganz normaler Mensch eben.
Ich habe kein Abitur, weil man mir nicht wegen schlechter Noten, sondern wegen der Attestpflicht das Leben zur Hölle machte, bis ich aufgab. Ich habe keine Kinder, weil ich meine Krankheit nicht weitergeben will – und weil mein Kind, um das ich mich kümmern muss, Migräne heißt. Migräne ist ein mieser Verräter, aber auch ein Lehrer. Vielleicht würde ich ohne sie heute nicht frei arbeiten und mich hinlegen können, wann ich will. Wir Migräniker können ziemlich gut mit uns und unseren Gedanken allein sein. Das zumindest ist für andere ja ein unerreichbarer Zustand.
Julia Werner
Unsere Autorin hat ihre Migräne akzeptiert und mit den Wellen Frieden geschlossen. Ob sie deshalb vor einigen Jahren ans Meer gezogen ist? Sie empfiehlt die Webseite schmerzklinik.de für alle, die mehr über Migräne wissen wollen oder Hilfe suchen.