Richtig Atmen

Ein Artikel von Nicola Vidic

Bewusst ausatmen? Geht doch! (Foto: Jaap Strijker)

Wie die richtige Atemtechnik hilft, Krankheiten vorzubeugen und länger zu leben

Die letzten Jahre hat man enorm viel über das „richtige Atmen“ gehört: Yoga-Atmung, Bauchatmung, Breathwork … Deshalb bin ich ein bisschen enttäuscht, als Professor Thomas Loew, Leiter der Abteilung für Psychosomatische Medizin am Universitätsklinikum Regensburg, meine Fragen nach diesen Techniken erst mal abblockt: „Es gibt kein falsches Atmen, der Körper macht das grundsätzlich schon richtig.“ Wichtig sei, dass der Rhythmus langsam genug ist. Dann habe die Lunge Zeit, sich auszudehnen, und der Atem komme automatisch da hin, wo er hin soll. Loew nennt das „entschleunigtes Atmen“: vier Sekunden einatmen, sechs Sekunden ausatmen, zweimal am Tag für zehn Minuten. Das soll schon alles sein?

Langsames Atmen schwächt Hitzewallungen ab 

Ja, denn praktiziert man es regelmäßig, kann verlangsamtes Atmen das Stresslevel senken – auch das Ziel von Yoga-Atmung & Co. – und damit eine Vielzahl stressinduzierter Krankheiten wie Bluthochdruck und in gewissem Maße sogar Autoimmunerkrankungen vorbeugen. „Es gibt unterschiedliche Entspannungstechniken wie autogenes Training oder Meditation, die erwiesenermaßen funktionieren. Aber die meisten Menschen scheitern daran, diese Übungen in den Alltag zu integrieren.“ Für den Experten ist hier deshalb weniger mehr. Und die Forschung bestätigt seinen Ansatz. „In Studien konnte gezeigt werden, dass zweimal täglich zehn Minuten entschleunigtes Atmen den mittleren Blutdruck zum Beispiel von 150 auf 140 mmHg (Millimeter Quecksilbersäule) senken konnte. Viele Medikamente schaffen nur fünf mmHg, deshalb ist es definitiv das wichtigste komplementäre Verfahren, das wir anbieten können“, erklärt Professor Loew. Auch akute Schmerzen kann man zwar nicht völlig wegatmen, aber doch deutlich beeinflussen. Genauso ist eine Verbesserung der Konzentration möglich, und Frauen in der Menopause profitieren, weil sich durch verlangsamtes Atmen Hitzewallungen abschwächen lassen.

Länger ausatmen als einatmen 

Also atme ich. Hole tief Luft und habe dabei das Gefühl, dass sich der Bauch ausdehnt, ich „in den Bauch atme“. Das liegt daran, dass sich das Zwerchfell zusammenzieht, Druck aufbaut und den Darm nach unten schiebt. „Gegen diesen Widerstand muss sich das Herz ausdehnen, und das belastet es logischerweise“, sagt der Mediziner. Beim Ausatmen entspannt sich das Zwerchfell wieder, und das Herz muss sich weniger anstrengen. „Deshalb sollte die Ausatmung länger als die Einatmung sein. Und wenn ich zusätzlich die Frequenz verringere und nur sechs- statt zehn- oder zwölfmal in der Minute atme, hat mein Herz einfach mehr ‚Urlaub‘.“ Bei diesem Rhythmus sind laut Forschung Herzaktivität, Hirnwellen und Kapillarpuls synchron, der ganze Körper schaltet auf Pause und kann sich regenerieren. Man gaukelt ihm im Prinzip vor, er würde schlafen. Diese Phase der Entschleunigung und Entspannung ist umso wichtiger, als sie bei unserem Lifestyle normalerweise viel zu kurz kommt – und währenddessen Zellschäden, ebenso wie die DNA und die Mitochondrien, also die Kraftwerke der Zellen, repariert werden können.

Klingt einfach und fast zu schön, um wahr zu sein. Und doch finde ich es erstaunlich schwierig, mich ganze zehn Minuten nur auf meinen Atem zu konzentrieren. „Die meisten Menschen machen das zu kurz. Ein paarmal tief durchatmen ist zu wenig, um in den Erholungsmodus zu kommen. Auch wenn das natürlich individuell verschieden ist, und man Entspannung sogar trainieren kann“, erklärt Professor Loew.


Optische Reize können helfen 

Zum Glück gibt es unterschiedliche Tools zur Unterstützung, denn einfaches Zählen funktioniert bei den wenigsten. Sehr unkompliziert ist zum Beispiel die App „Breath Ball“ und für mich eine gute Hilfe, auch wenn Thomas Loew meint: „Wer keine großen Beschwerden hat, kann das machen. Aber oft ist das Handy stressbesetzt, durch ständig neu eingehende Nachrichten oder Anrufe.“ Eine andere Möglichkeit sind optische Reize. Der Atem-Experte bietet dazu auf seinem Youtube-Kanal ein Video an, in dem sich blaue und grüne Farbflächen abwechseln. Es gibt aber auch spezielle Lampen oder kleine Geräte wie „Pneemo“, das den Takt mittels leichter Vibration vorgibt. Früher dienten zu diesem Zweck Rituale wie gemeinsames Singen oder das Beten von Psalmen. Die muss man sich heute eben in anderer Form erschaffen.

Dass bei der Atmung die Nase eine zentrale Rolle spielt, merken wir sofort, wenn sie während einer Erkältung verstopft ist. Besonders wichtig ist sie beim Luftholen, weiß Mediziner Loew: „Beim Einatmen wird die Luft in den Nasennebenhöhlen angewärmt. Außerdem wird die körpereigene Stickoxid-Produk­tion aktiviert, das wirkt antiviral.“ Ob man dagegen durch Mund oder Nase ausatmet, sei im Grunde egal.

Luftanhalten versetzt den Körper in einen Alarmzustand

Und was kann man sonst noch mit dem Atem manipulieren? Atmen wir bewusst schneller, täuschen wir unserem Gehirn einen Sauerstoffmangel vor. Das führt von einer Schärfung der Wahrnehmung bis zur Ohnmacht und sollte nur unter Anleitung praktiziert werden. Bewusst eingesetztes Luftanhalten, wie bei manchen Yoga-Atemübungen oder in der Meditation, versetzt den Körper laut Loew auf zellulärer Ebene in einen maximalen Alarmzustand, weil die Sauerstoffversorgung schlechter werde: „Das bewirkt eine höhere Aufmerksamkeit, weil es für den Körper eine Gefahrensituation darstellt. Man wird wacher, klarer, und die Konzentrationsfähigkeit nimmt zu.“

Ich habe in den Tagen nach diesem Gespräch immer wieder versucht, Wartezeiten und Pausen zum bewussten Atmen zu nutzen, und dabei gemerkt, wie schnell meine Gedanken abschweifen. Gleichzeitig ist mir erst so richtig bewusst geworden, wie viel man damit erreichen kann. Professor Loew: „Die Atmung ist das Tool, mit dem wir die weitreichendsten Möglichkeiten haben, uns physiologisch zu verändern, und das einzige, zu dem wir bewussten Zugang haben.“

Atem-Experte Prof. Dr. Thomas Loew ist Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychiatrie und Psychosomatik. Er ist ehrenamtlich im Bereich Therapie traumatisierter Flüchtlingskinder tätig und Autor des Buches „Langsamer atmen, besser leben“