Niesen, Hüpfen, Tröpfchen?

Ein Interview von Isabell Spilker

Foto: Adriano Russo

Trampolinspringen, Gummitwist oder Seilhüpfen – für Frauen in unserem Alter sicher nicht die beliebtesten Hobbies. Kein Wunder: So richtig gut geht das mit dem Beckenboden nicht (mehr). Wir reden über Inkontinenz

Spätestens, wenn beim Niesen Urin abgeht oder – worst case – beim Orgasmus, dann ist’s Zeit zum Handeln. Wir haben Dr. Sybille Görlitz-Novakovic, Gynäkologin aus Berlin, gefragt, was jetzt hilft

MAISON MADAME: Inkontinenz ist nun nicht das beliebteste Gesprächsthema unter Freundinnen. Wie sieht das bei Ihnen in der Praxis aus: Kommen viele Frauen zu Ihnen und sprechen das Problem offen an?

Dr. Sybille Görlitz-Novakovic: Zunächst mal grundsätzlich: Die Harninkontinenz kommt viel häufiger vor, als wir denken. Laut Befragungen sind 30 bis 40 Prozent der Frauen in der Perimenopause und Menopause von Harninkontinenz betroffen. Die Dunkelziffer wird deutlich höher sein, denn, wie Sie schon sagen: Das ist ein sehr schambehaftetes Thema, über das man nicht gern spricht – noch nicht mal bei der Gynäkologin. Und dabei könnte den Frauen meist so einfach geholfen werden!

Ich ahne es schon: Beckenbodentraining.

Richtig, aber nicht nur, es gibt noch andere Wege. Je früher das Problem auf den Tisch kommt, desto schneller und besser kann man es lösen. Wichtig ist an erster Stelle, den Frauen zu vermitteln: „Sie können dafür schon mal gar nichts!“ Ich sehe als Gynäkologin bei der Untersuchung, wie es um den Beckenboden steht. Dann frage ich mal liebevoll, wie es dem so geht, aber die Antworten sind nicht immer ehrlich und aufschlussreich. Ich habe deswegen einen Fragebogen etabliert, den meine Patientinnen während der Wartezeit – die es ja leider meist gibt – in Ruhe ausfüllen können: Wie häufig gehen Sie nachts zur Toilette? Geht beim Husten etwas ab? Und wenn ja – beeinträchtigen die Symptome Ihre Lebensqualität? Aus vielen Details wird dann ein Score ermittelt, der mir Aufschluss gibt, ob hier ein Problem vorliegt.

Und der Score dient dann – je nach Höhe – als Gesprächsgrundlage?

Richtig. Mir hilft er dabei, ein Gefühl dafür zu kriegen, ob die Frau ein Problem hat und wie hoch der Leidensdruck ist. Sicher: Manche antworten auch hier nicht ehrlich, und manche empfinden es vielleicht auch wirklich nicht als Problem, obwohl der Körper etwas anderes sagt. Die Inkontinenz ist ja nicht nur eine Frage der Lebensqualität, sondern auch ein medizinisches Problem. Die Patientin sitzt stets im Feuchten, das reizt die Haut. Das Risiko für eine Erkrankung wie Blasenentzündung oder Pilzinfektionen ist hoch. Trotzdem: Manche Frauen tragen lieber Windelhöschen, als das Thema anzusprechen!

„Ich sehe, wie der Zustand des Beckenboden ist, und frage mal liebevoll, wie es denn so geht – aber die Antworten sind nicht immer ehrlich und aufschlussreich“

Dr. Sybille Görlitz-Novakovic

Der Beckenboden wird immer in Verbindung gebracht mit Schwangerschaft und schlechter Rückbildung. Nun trifft Harninkontinenz ja aber auch Frauen ohne Kinder – und solche, die nach der Entbindung fleißig trainiert haben!

Es gibt ganz unterschiedliche Ursachen für Inkontinenz. Die Dranginkontinenz, ausgelöst durch ein Steuerungsproblem in der Blase, wird meist medikamentös behandelt. Es gibt auch neurologische Erkrankungen – das muss man natürlich abklären. Mehrheitlich leiden Frauen aber an der sogenannten Stressinkontinenz: Die Schwäche des Beckenbodens ist die Ursache. Geburten, Schwangerschaften, aber auch Lebensalter, Bindegewebsschwäche und Gewicht spielen eine Rolle – und ganz stark auch die Menopause. Woran liegt das? Am Hormonmangel. Die Gewebestrukturen wurden bis dahin durch den hohen Östrogenspiegel gut versorgt, und der fällt nun ab. Der Mangel an Östrogen führt zu einer schlechteren Durchblutung des Gewebes. Und in Folge nimmt die Beckenbodenmuskulatur ab.

Wenn denn nun die Hormone die Ursache sind: Lässt sich das dann mit Training überhaupt regeln?

Der Beckenboden ist ein Muskel. Und ein Muskel, der schwach ist, muss trainiert werden. Ich empfehle bei Östrogenmangel zunächst eine lokale Hormontherapie mit Zäpfchen oder Cremes. Wichtig hier zu betonen: Lokal verabreicht erhöht die Hormontherapie kein Krebsrisiko! Davon kriegt man auch keinen Schlaganfall und keine Thrombose. Und dann folgt das Beckenbodentraining. Manchen ist gut geholfen mit Übungen, die sie allein zu Hause durchführen. Manche brauchen einen virtuellen Kurs, für andere ist Cantienica oder Pilates mit anderen Frauen das Richtige. Physiotherapie empfehle ich Frauen, die ein ganz gezieltes Training brauchen und Schwierigkeiten mit dem Körpergefühl haben. Es gibt für jede das Passende.

Es gibt in Ihrer Praxis auch einen speziellen Stuhl zum Training der Beckenbodenmuskulatur, richtig? Wie funktioniert er und wer nutzt ihn?

Die Stühle arbeiten mit elektromagnetischen Feldern, die die Muskulatur aktivieren. Das ist sehr effektiv und geeignet für Patientinnen, die Schwierigkeiten mit dem Training haben, weil sie zum Beispiel nicht genau wissen, wo der Beckenboden liegt und ihn nicht spüren. Auch vaginales Lasern ist eine Option – hier werden Mikroverletzungen ausgelöst, die helfen, dass sich die Beckenbodenmuskulatur erneuert. Hilft übrigens auch gegen Scheidentrockenheit.

Und damit kommt man um das Beckenbodentraining herum?

Nein. Wenn Sie Ihren Bizeps trainieren, dann aber nicht mehr einsetzen, wird der Muskel wieder schlapp. Ein starker Beckenboden macht glücklich, weil er Lebensqualität zurückgibt: Für Frauen, die wegen Scheidentrockenheit oder Harninkontinenz keinen Sex mehr hatten, ist das wie ein zweiter Frühling in der Partnerschaft – oder vielleicht auch wie die Aktivierung des Tinderprofils nach ewigem Singledasein.

Dr. Sybille Görlitz-Novakovic