Leb wohl, Mama!

Ein Essay von Isabell Spilker

Ein letzter Schritt (Foto: Zeb Daemen)

Über ein Thema, das jede von uns irgendwann trifft: Abschied von der eigenen Mutter

„Why do all good things come to an end?“, fragt Nelly Furtado singend und ich habe noch immer keine Antwort für sie. Aber die Hymne stimmt ein auf den Text, der jetzt kommt.

Meine Mutter war eine große Frau. Nicht körperlich, da konnte sie mir nur bis an die Nasenspitze reichen. Aber sie war groß in ihrem Wesen. Als ich hörte, dass sie krank ist, als mir bewusst wurde, wie krank sie ist, und als ich viel schneller als sie selbst begriff, dass sie sterben wird, ging etwas in mir kaputt. Ganz langsam, irreparabel. Es zerbrach die Selbstverständlichkeit, dass die Dinge endlos so weitergehen. Dass meine Mutter, die Große, der Fels in der Brandung, die immer für alle da war und die immer wieder aufstand, wenn ein Sturm sie umgeworfen hatte, irgendwann bald nicht mehr da sein könnte.

Stark stand sie in meinen Tränen

„Ich gehe noch lange nicht“, sagte sie mir, als sie mir ihre Diagnose mitteilte, „es gibt eine 5-prozentige Überlebenschance.“ Und als der Krebs nach der Chemo wiederkam, viel zu schnell, da stand sie stark in meinen Tränen und sagte: „Es ist okay. Ich hatte doch ein schönes und erfülltes Leben.“ Mit 66. Natürlich wissen wir alle, dass unsere Eltern irgendwann sterben werden. Und wir ahnen, dass wir uns vorher darüber Gedanken machen müssen, wie und ob wir sie pflegen und was aus ihren Häusern und Wohnungen wird. Dass der Abschied irgendwann kommen wird, aber er ist ja noch so weit weg. Und so bleibt es abstrakt, denn was wissen die meisten von uns mit 40 oder 50 schon von Abschieden? Alles scheint möglich, wenn man jung ist. Die Welt liegt einem zu Füßen und wir haben ja noch so viel Zeit.


Abschied von den Eltern: Der letzte Schritt zum Erwachsensein

Und dann werden die Eltern krank, sie werden dement und schleichen sich aus dem Leben. Man rückt nach und beginnt, sich zu kümmern. Es ist ein anderes Kümmern als das um die eigenen Kinder, denn sie werden nicht selbstständiger, die Eltern. Sie schwinden dahin und überlassen sich unserer Verantwortung. Und so ist der Abschied von den Eltern für viele wohl der letzte Schritt zum Erwachsenwerden. Ich habe in den Monaten des langen Abschieds versucht meine Mutter zu überschütten mit Dank und mit Liebe und mit Gesten, aber vergessen zu fragen: Wie ist es, wenn man Abschied nehmen muss? Ich meine all diese Abschiede, von denen man nichts ahnt, wenn man jung ist, und die mir jetzt erst alle auffallen. Zum Beispiel von der Fruchtbarkeit? Von der Fähigkeit, nachts zu arbeiten, wenn die Kinder schlafen? Von glatter Haut und braunem Haar? Von der Vielzahl an Möglichkeiten, dass mir immer mehrere Wege frei sind? Von der Unbeschwertheit, dass immer jemand da ist, der einem den Rücken stärkt, wenn es der falsche Weg war? Und auch von den eigenen Kindern, die ausziehen in ihr eigenes Leben, und von dem Leben als Familie in einem Haus?

Wir packten ihre Sachen und fuhren nach Hause

Meine große, wunderschöne und einzigartige Mutter, dieser unglaublich gutmütige und großherzige Mensch, starb an einem sonnigen Dezembertag. Ich fand es schön und unfair zugleich, dass die Sonne schien als wäre nichts. Schön, dass sie sprichwörtlich ins Licht gehen konnte und Sonnenstrahlen in ihr Zimmer fielen. Und unfair – ja, wie konnte sie nur scheinen, die Sonne, wenn doch meine Mutter nicht mehr scheinen kann. Wir hatten viel Zeit, uns zu verabschieden, und doch hatten wir keine. Zweieinhalb Jahre ist sie nun nicht mehr da und nur ein einziges Mal hat sie mich seitdem im Traum besucht. Im Traum haben wir ihre Sachen gepackt und sind nach Hause gefahren. Es war, als wollte sie mir sagen: Ich bin zwar nicht mehr da, aber das heißt noch lange nicht, dass wir uns verabschieden müssen. Alles ist möglich. Du musst nur groß sein.

„Es ist ein anderes Kümmern als das um die eigenen Kinder, denn sie werden nicht selbstständiger, die Eltern. Sie schwinden dahin und überlassen sich unserer Verantwortung.“