Flugzeug-Rührseligkeit, die  (f.)

Ein Essay von Lisa Goldmann

Das muss die Höhenluft sein (Illustration: Hassan Kerrouch)

Nicht peinlich, sondern unglaublich befreiend: Warum wir beim Fliegen den Tränen so nahe sind

Dieses Mal dachte ich wirklich, ich würde es schaffen. Meine Stimmung, als ich im Flugzeug Platz nahm, war stabil. Die Vorfreude auf mein Reiseziel groß und der Film, den ich mir auf meinem Laptop ausgesucht hatte, vollkommen harmlos. Dachte ich. Eine Komödie über eine junge CEO und ihren Praktikanten im Rentenalter, was kann schon schiefgehen? Nun, nach etwa 40 Minuten war ich völlig in Tränen aufgelöst. Die beiden können ja so viel voneinander lernen, wenn sie sich nur aufeinander einlassen, schluchz. Unser modernes Arbeitsleben ist ja so entmenschlicht, schluchz. Und überhaupt, warum ist die Business-Welt zu jungen Frauen immer noch so ungerecht? Schluchz, schluchz, schluchz.

Dazu muss man wissen, dass ich auf Meeresniveau selten weine. Schon gar nicht bei mittelklassigen Filmen. Nur im Flugzeug fließen die Tränen ganz leicht. Mit diesem Phänomen bin ich nicht allein, vielen Menschen geht es so, auch die Filmemacher David Cronenberg und Quentin Tarantino haben sich dazu bekannt. Wir bilden eine Art „Mile Cry Club“.

Aus meinem liebsten Filmpodcast mit Simon Mayo und Mark Kermode weiß ich, dass es dafür sogar einen Begriff gibt: „Altitude Adjusted Lachry­mosity Syndrome“ (kurz AALS), also „Höhenabhängiges Tränenfluss-Syndrom“. Es gibt einige wissen-schaftlich nicht bewiesene Theorien dazu: Die Weinerlichkeit könnte vom Gratis-Alkohol ausgelöst werden, der an Bord ausgeschenkt wird. Oder von der sauerstoffarmen Kabinenluft. Vielleicht auch vom veränderten Höhendruck, der sich auf unsere Tränendrüsen auswirkt. Ich persönlich glaube, dass die Flugzeug-Rührseligkeit eine psychologische Ursache hat. Egal, wie routiniert und angstfrei wir fliegen – unseren Körper in zehn Kilometer Höhe zu katapultieren, ist und bleibt eine Ausnahmesituation, auf die wir unweigerlich mit ­An­spannung reagieren. Die macht uns besonders sensibel und empfänglich. Und dann ist es egal, welchen Film wir sehen. Oder ob wir überhaupt einen sehen. Denn, ich gebe es zu, manchmal stehen mir schon ­Tränen in den Augen, wenn der oder die Pilotin eine besonders freundliche Begrüßungsansage macht. Spätestens, wenn sich die Crew nach der Landung bedankt, dass wir heute mit ihnen geflogen sind (was für ein ­Vertrauen, und sie haben uns nicht enttäuscht, wir leben noch!) heule ich los. Und finde es unglaublich befreiend.

Autorin Lisa Goldmann war es früher peinlich, im Flugzeug unter fremden Menschen zu weinen. Inzwischen stört sie das nicht mehr. Sie freut sich immer, wenn sie auf Gleichgesinnte trifft. Erkennungsmerkmal: rote Augen.