Der Körper vergisst nichts

Ein Interview von Nicola Vidic

Durch die eigene Berührung lernen wir uns noch besser kennen (Foto: Oliver Beckmann)

Berührungen, Bewegungen, Begegnungen – unser Körpergedächtnis speichert jede gute und schlechte Erfahrung ab. Eine Expertin erklärt, wie das unser Verhalten beeinflusst

Wie stark Erinnerungen uns beeinflussen können, ist uns bewusst. Etwa wenn wir unsere Seele an grauen Tagen mit Bildern aus dem letzten Sommerurlaub wärmen. Dass auch unser Körper ein Gedächtnis hat, sich etwa an das Gefühl von Sand unter den Füßen oder aber den Stress bei einem Bewerbungsgespräch erinnert, ist weit weniger bekannt. Welche zentrale Rolle das Körpergedächtnis in unserem Leben einnimmt und welche Rolle Berührungen dabei spielen, erklärt Dr. Esther Kühn, Neurobiologin an der Medizinischen Fakultät der Karl Eberhart Universität Tübingen.

MAISON MADAME: Was genau versteht man unter dem Körpergedächtnis? 

Dr. Esther Kühn: Es umfasst alle Erfahrungen des Körpers in der Ver­gangenheit, die wir im Gedächtnis abgespeichert haben, und die das Verhalten beeinflussen. Einerseits durch bewusste Entscheidungen, weil wir uns an eine negative Körpererfahrung erinnern. Andererseits kann das aber auch sehr unbewusst ablaufen. In vielen Fäl­len ist uns gar nicht klar, wie das Körpergedächtnis unser Verhalten beeinflusst, und dadurch ist es im All­tag für uns so wenig greifbar.


Welche Erfahrungen sind das zum Beispiel?


Der Körper hat sehr viele Sinne. Der Fokus liegt meist auf der Wahrnehmung der externen Welt, dem Hören und Sehen. Aber wir haben auch viele Rezep­toren, die uns mitteilen, was im Körper passiert. Die Propriozeption, der Sinn der Muskeln, erkennt Posi­tionen, zum Beispiel beim Yoga. Die merkt man sich und kann sie so wieder reproduzieren. Die Interozep­tion dagegen zeigt an, welche Temperatur der Körper hat, wie schnell der Puls geht, ob man Hunger hat oder Durst. Das sind alles Signale, die von unseren in­neren Organen ausgehen und Informationen zu un­serem Status zum Gehirn senden. Und dann ist auch Berührung ein ganz wichtiger Faktor. Also: Was füh­le ich gerade? Ist das eine angenehme oder eine unan­genehme Berührung, habe ich Schmerzen? Außerdem kann man Oberflächen sehr fein unterscheiden, ob man eine Rinde berührt oder einen Schreibtisch.


Inwiefern beeinflusst die Erinnerung an diese Erfahrungen unser zukünftiges Verhalten? 

Im Grunde kann man das in zwei große Bereiche einteilen. Auf der einen Seite versuchen wir, unange­ nehme Erfahrungen zu vermeiden. Dazu gab es im letzten Jahr eine Fallstudie: Menschen wurden einem stressigen Jobinterview ausgesetzt, eine Kontrollgrup­ pe musste dagegen nur harmlose Fragen beantworten. Die Teilnehmer*innen, bei denen Stressreaktionen hervorgerufen wurden, konnten sich nachher besser an die Gesichter der Interviewer*innen erinnern und sogar an Gegenstände, die sie während des Gesprächs benutzt hatten, wie eine bestimmte Kaffeetasse. Ha­ben sie diese Kaffeetasse dann später gesehen, kam die Erinnerung an die gesamte Situation hoch. Das zeigt, dass selbst kleinste Einzelheiten einer Körpererinne­ rung das ganze Erlebnis wieder auslösen können und vielleicht dazu führen, dass Sie zum Beispiel mor gens eine andere Kaffeetasse wählen. Auf der anderen Seite versuchen wir gezielt, Situationen aufzusuchen, die wir positiv in Erinnerung haben, wie Umarmun­ gen. Und dann gibt es noch das Habit Learning, das automatische Abspeichern von Sequenzen. So kann man etwa Telefonnummern oft eintippen, ohne dar­ über nachdenken zu müssen, die Finger bewegen sich fast automatisch, aber die Zahlen könnte man nicht nennen. Auch das Fahrradfahren gehört dazu.


Wovon hängt ab, wie gut wir uns an bestimmte Körpererfahrungen erinnern können?
Die Region im Gehirn, die unsere Erinnerungen abspeichert, der Hippocampus, liegt direkt neben dem Mandelkern, der die Emotionen verarbeitet. Dadurch können wir sehr positive oder sehr negative Erinnerungen besser behalten als etwas, das uns nicht be­rührt. Sie nehmen einen größeren Raum im Gedächt­nis ein und beeinflussen uns in der Regel viel mehr. Was besonders starke Emotionen auslöst, ist von Per­son zu Person aber sehr unterschiedlich.

Kann man seine Erinnerungen bewusst beeinflussen?
Ja, Sie können schöne Erinnerungen pflegen, in­ dem Sie positive körperliche Erfahrungen gezielt reaktivieren. Etwa wieder mit dem Surfen anfangen, wenn Sie früher viel Spaß dabei hatten. Oder man ver­sucht, negative Empfindungen zu überschreiben, in­ dem man sie reaktiviert, um sie dann aber mit einem positiven Bezug zu verknüpfen. Schließlich kann man positive Körpererfahrungen komplett neu generieren. Also zum Beispiel eine neue Sportart wie Yoga aus­ probieren. Das kann auch helfen, das Gefühl für den eigenen Körper zurückzugewinnen, wieder besser zu verstehen, was ihm guttut und was nicht.

Prof. Dr. rer. Nat. Esther Kühn (Foto: Jana Dünnhaupt/OVGU)

Welche Rolle spielen Berührungen bei der Wahrnehmung des eigenen Körpers?
Unser Berührungssystem ist sehr komplex. Einer­seits können wir uns erinnern, wie sich etwas angefühlt hat, andererseits sind wir speziell auf zwischen­ menschliche Berührungen vorbereitet. Sogenannte C­-Fasern, die vor allem auf den behaarten Hautarea­len wie Armen, Beinen und Rücken angesiedelt sind, reagieren auf das langsame Berührt­-Werden bei einer Frequenz von ungefähr einer Streicheleinheit pro Se­kunde. Die gleiche Frequenz, mit der zum Beispiel Eltern intuitiv ihre Säuglinge streicheln oder in der man vom Partner berührt wird. Diese C-­Fasern projizieren direkt in die sogenannte Insula, einen Teil des vegeta­tiven Nervensystems, die dann positive Emotionen auslöst. Das funktioniert aber nicht bei einer deutlich schnelleren oder langsameren Berührung.

Also ist nicht jede Berührung automatisch angenehm ...
Ja, weil sie etwas sehr Emotionales ist. Das Bedürf­nis nach körperlicher Nähe hängt stark davon ab, ob mir mein Gegenüber sympathisch ist. Außerdem kann die gleiche Berührung in einer schönen Situation ganz anders wahrgenommen werden, als wenn ich gestresst bin oder wenn ein Streit stattgefunden hat. Menschen haben ein episodisches Gedächtnis, wir erinnern uns in der Regel an die Gesamtsituation, nicht an Details, und dadurch spielt der Kontext eine so große Rolle.

Unser Körper signalisiert uns also sehr genau, was ihm guttut und was eher unangenehm ist?
Wenn man sich beim Sport zum Beispiel zu stark unter Druck setzt, führt eine negative Erfahrung viel­ leicht dazu, dass man beim nächsten Mal nicht mehr hingeht. Oft schiebt man die Bedürfnisse des Körpers einfach weg und nimmt Schmerzen hin, um sein Ziel zu erreichen. Aber wenn man sich einmal klar gemacht hat, dass der Körper alles, was er erlebt, abspeichert, wird einem bewusst, wie wichtig es ist, welchen Er­fahrungen man ihn aussetzt. Und das führt vielleicht dazu, dass man ein bisschen nachsichtiger mit den körperlichen Bedürfnissen umgeht.

„Wir reagieren positiv auf die Frequenz von etwa einer Streicheleinheit pro Sekunde.“

Dr. Esther Kühn