Der große Unterschied: Warum Frauen andere Medizin brauchen

Ein Interview von Eva Meschede

Ein gegensätzlicher Trend: Geschlechtsneutrale Mode (Foto: Zeb Daemen)

Lange hat die Medizin Männer und Frauen gleich behandelt. Geforscht wurde vor allem am Mann. Mittlerweile weiß man: Frauen werden anders krank, haben andere Symptome, brauchen andere Therapien, Medikamente und Diagnosen. Doch dieses Wissen hat es immer noch nicht ausreichend an die Universitäten und in die Praxen geschafft. Sabine Oertelt-Prigione, erste Professorin für geschlechtersensible Medizin in Deutschland, will das ändern

MAISON MADAME: Sie haben im Fach Medizin gerade einen geschlechtersensiblen Lehrplan für die Uni Bielefeld entwickelt, warum ist das so wichtig?
Sabine Oertelt-Prigione: Heute weiß man, dass Forschung an Männern wenig über Frauen und andere Ge­schlechter aussagt. Es gibt fast für jede Disziplin Unterschiede zwischen den Geschlechtern, sei es in der Schmerzforschung, bei Alzhei­mer, beim Reizdarmsyndrom, bei Tumoren, Asthma oder der Infek­tiologie... Es ist wichtig, dass der Prozess der Sensibilisierung früh an der Uni beginnt. Wir müssen end­lich ein anderes Denken schulen, die Studierenden lehren, kritisch zu hinterfragen und die Patient*innen als Individuum zu sehen.

Und das wird an der Uni nicht gelehrt?
Bisher ist geschlechtersensible Medizin an den meisten Univer­sitäten freiwillig. In Bielefeld etab­lieren wir jetzt nicht nur Pflicht­veranstaltungen, sondern versuchen auch, mit allen Fächern intensiv zusammenzuarbeiten, sodass schließlich das gesamte Curriculum unabhängig von meinen Gendermedizin ­Veranstaltungen ge­schlechtersensibel wird. In jedem Fach sollten dazu mindestens beide Geschlechter erwähnt und bei praktischen Übungen berücksich­tigt werden. Bei einem Reanimati­onskurs zum Beispiel sollte es auch Puppen mit Brust geben.

Warum sind Frauen überhaupt lange wie Männer behandelt worden?
In der Vergangenheit wurde vor allem an männlichen Zellen und männlichen Tieren geforscht. Bis in die 80er­Jahre des 20. Jahrhunderts waren Frauen un­terrepräsentiert bei klinischen Studien, weil man das Risiko einer fruchtschädigenden Wirkung eines Arz­neimittels ausschließen wollte. Nachdem die Conter­gan-Tragödie gezeigt hatte, dass auch ein Schlafmittel, das relativ harmlos schien, wurden Frauen vollkommen von klinischen Studien ausgeschlossen. Sie bekamen die Arzneimittel aber trotzdem verabreicht, auch wenn sie nur an Männern getestet worden waren. Wie sie bei Frauen wirken, hat man erst erkannt, nachdem die Medikamente dann auf dem Markt waren. Frauen bekamen Nebenwirkungen en masse. Heute werden Frauen einbe­zogen. Es gibt aber immer noch Stu­dien, in denen Frauen zwar repräsen­tiert sind, aber nicht in derselben Größenordnung, wie die Erkrankung die Bevölkerung trifft. Wenn etwa ge­nauso viele Männer wie Frauen Diabetes bekommen, dann würde ich mir wünschen, dass in klinischen Studien auch eine gleiche Anzahl von Frauen und Männern eingeschlossen wird. Das ist leider noch nicht immer so.

Also sind Patientinnen weiter benachteiligt?
Ich finde es immer sehr problema­tisch, wenn das Thema nur als Frauen­medizin verkauft und so dargestellt wird, als würden lediglich die armen Frauen schlecht behandelt. Das sollten wir mittlerweile kritischer reflektieren. Bei der geschlechtersensiblen Medizin geht es um den Abbau von Versor­gungsungleichheiten – bei allen Pati­ent*innen. Wie sieht es denn bei Män­nern aus? Es gibt auch bei ihnen Krankheiten, die zu selten oder zu spät diagnostiziert werden, etwa Osteoporose, die als Frauenkrankheit gilt. Ob­ wohl Fachgesellschaften heute empfeh­len, dass alle Männer über 70 auf die Knochenkrankheit gescreent werden sollten, weil die Inzidenz von Osteoporose auch bei Männern in dem Alter relativ hoch ist, passiert nichts. Die Geschlechtersensible Medizin möchte die Versorgung für alle Men­schen unabhängig vom Geschlecht verbessern, für Frauen, Männer, nichtbinäre oder transgeschlechtliche Personen.

Expertin Prof. Sabine Oertelt-Prigione ist Professorin im Fach Geschlechtersensible Medizin an der Universität Bielefeld (Foto: Sabine Oertelt-Prigione, privat)

Was muss sonst noch mit einbezogen werden?
Es gibt auch psychosoziale Aspekte, die Ärzt*innen beachten müssen, etwa die Situation, in der eine Person lebt. So hat etwa Covid Ärmere schwe­rer getroffen. Historisch gesehen waren tödliche Herz­infarkte bei Frauen das, was die Ärzt*innen weltweit aufrüttelte. Es waren Studien aus dem vergangenen Jahrhundert, die zeigten, dass Infarkte bei Frauen völ­lig andere Symptome zeigen, und sie starben, weil der Infarkt zu spät oder gar nicht erkannt wurde. Seitdem haben wir viel dazugelernt und wissen viel über die Entstehung von Herzkrankheiten und Herzschmer­zen. Und dass je nach Geschlecht sogar unterschied­liche Gefäße betroffen sein können, nämlich eher die großen Schlagadern bei Männern und eher die klei­neren Herzkranzgefäße bei Frauen. Wichtig ist, dass geschlechtsspezifisch geforscht und behandelt wird.

Gibt es ein aktuelles Bespiel?
Long Covid ist ein sehr aktuelles, das noch nicht abschließend erforscht ist. Unsere Daten zeigen im Moment relativ deutlich, dass Frauen häufiger betrof­fen sind, auch jüngere. Und hier hatten wir am An­ fang ähnliche Mechanismen, wie wir sie aus der frü­heren Unterschätzung bei Herzerkrankungen kennen. Ärzt*innen glaubten nicht, dass Long Covid existiert. Viele Patient*innen wurden nicht ernst genommen. Man ging davon aus, dass diese Symptome die logi­sche Konsequenz einer schweren Erkrankung sind. Und dann stellte sich heraus, dass es doch eine eigene Krankheit ist, die sich von der akuten Infektion un­terscheidet. Im Moment sind wir noch damit beschäf­tigt, die Krankheit genau einzugrenzen und die Ent­stehungsmechanismen besser zu verstehen. Sie hat eine sehr individualisierte Symptomatik. Das unterstreicht, warum wir die Studierenden schon sehr früh sensibilisieren wollen. Wenn Patient*innen mit Beschwerden kommen, die wir Ärzt*innen nicht einordnen kön­nen, heißt das nicht automatisch, dass eine Krankheit nicht existiert oder psychosomatischer Natur ist, sondern dass wir genau hinsehen sollten, inwiefern es et­ was sein könnte, das wir noch nicht kennen.

Wie weit sind die Erkenntnisse der gendersensiblen Medizin in den Praxen angekommen?
Nicht ausreichend. Es ist letztendlich dem oder der Einzelnen überlassen, ob er oder sie sich zu dem The­ma fortbilden möchte. Es ist keine Pflicht. In der Pra­xis gibt es Hausärzt*innen, die sich mit dem Thema auseinandersetzen, und es gibt andere, die sich weni­ger interessieren. Aber es ändert sich gerade etwas, im­mer mehr Ärztekammern in Deutschland organisie­ren Fortbildungsveranstaltungen. Es ist wichtig, dass Ärzt*innen wissen, wie das Geschlecht etwa die Arz­neimittelwirksamkeit beeinflussen kann, dass sich Erkrankungen eventuell unterschiedlich äußern bei Frauen und Männern oder bei Mädchen und Jungen. Und mittlerweile müsste es vielen Ärzt*innen bewusst sein, dass es zu potenzieller Überdosierung kommen kann, wenn zum Beispiel der Körper kleiner ist. Was ja im Durchschnitt bei Frauen so ist.

Wie finde ich heraus, ob mein Hausarzt sensibel mit dem Thema umgeht?
Ich würde einfach mal fragen: „Macht es einen Unterschied für diese Therapie, dass ich eine Frau bin? Müssen wir die anpassen? Gibt es Informationen dazu?“ Wenn das in der Praxis immer wieder vor­ kommt, hat das einen positiven Effekt, weil die Kol­leg*innen sich dann weiterbilden wollen. Das ist qua­ si leichter Druck von unten, den Sie ausüben können.

Was ist Gendermedizin?
Gendersensible Medizin ist eine junge Wissenschaft, die erst Anfang dieses Jahrhunderts nach Deutschland kam. Entstanden ist sie in den späten 1980er-Jahren in den USA, mehrere US-Studien hatten Ärzt*innen und Wissenschaft alarmiert, weil sie zeigten, das Frauen zwar seltener einen Herzinfarkt erlitten, aber deutlich öfter daran starben. Frauen hatten nicht die typischen Schmerzen in der Brust oder im Arm, sondern zwischen den Schulterblättern, im Nacken oder im Bauch, sie klagten über Übelkeit und Atemnot. Der Infarkt wurde deshalb oft zu spät oder gar nicht erkannt, weder von den Ärzt*innen noch von den Frauen selbst.

Oft nicht erkannt: Das Broken-Heart-Syndrom & Depression
Das Broken-Heart-Syndrom ist eine schwere Erkrankung des Herzens, die oft nicht diagnostiziert wird. Sie betrifft zu 90 Prozent Frauen. Unter dem Ansturm von Stresshormonen fällt das Herz in eine Starre, Gefäße verkrampfen, das Herz pumpt weniger Blut durch den Körper. Erst im Ultraschall wird deutlich, dass es sich nicht um einen Gefäßverschluss, also Infarkt handelt, sondern die linke Herzkammer verformt ist. Das Syndrom kann zum Herztod führen. Wird es rechtzeitig erkannt, sind die Heilungschancen sehr gut. Eine Depression trifft angeblich Frauen doppelt so häufig wie Männer. Gendermediziner*innen vermuten allerdings, dass sie bei Männern oft übersehen wird und die Krankheit hinter männlichen Verhaltensweisen wie Sucht oder Aggression steckt. Als Kriterien für Depression nennt die WHO aber Symptome wie Antriebslosigkeit, gedrückte Stimmung oder Angst. Weibliche Beschwerden, die bei Patienten zu Fehldiagnosen führen. Hier braucht auch der Mann mehr Aufmerksamkeit.